«Die Schweiz muss jetzt beim Klimaschutz aktiv werden»
Am 9. April 2024 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Schweiz, weil diese zu wenig für den Klimaschutz tut. Damit gab er den klagenden KlimaSeniorinnen recht. Das Gericht anerkennt: Das Recht auf eine gesunde Umwelt ist ein Menschenrecht. Pia Hollenstein, Vorstandsmitglied im Verein KlimaSeniorinnen Schweiz, blickt auf diesen Sieg zurück.
Pia Hollenstein, was bedeutet das Urteil des EGMR für Sie?
Das Urteil ist eine immens wichtige Botschaft an die Schweiz, an alle Länder des Europarats und die Umweltbewegten weltweit. Der EGMR stellte fest, dass es eine Menschenrechtsverletzung ist, wenn man die Bevölkerung nicht vor den Folgen der Klimakrise schützt.
Wie haben Sie den Moment der Urteilsverkündung erlebt?
Persönlich habe ich die Minuten der Urteilsverkündung als Genugtuung für den jahrelangen Krampf für die Klimagerechtigkeit empfunden. Es war für uns KlimaSeniorinnen und unser Anwaltsteam fast nicht zu fassen, dass wir praktisch durchwegs gewonnen haben. In meiner politischen Karriere habe ich nochnie ein so grosses weltweites Medieninteresse erlebt. Das Gerichtsurteil ist auch eine Auszeichnung und Anerkennung für das Anwaltsteam.
Inwiefern gibt dieser Sieg Anlass zur Hoffnung?
Die Schweiz muss jetzt beim Klimaschutz aktiv werden. Es hat sich gelohnt, dass wir uns acht Jahre lang dafür eingesetzt haben. Dieser Erfolg zeigt auch, dass man mit Engagement viel erreichen kann. Das motiviert uns, weiterzumachen, damit das Urteil auch wirklich umgesetzt wird.
Was nehmen Sie mit aus diesen acht Jahren Engagement?
Es lohnt sich, ein Anliegen hartnäckig zu verfolgen. Zudem ist juristische Kompetenz für den Erfolg enorm wichtig, ebenso wie professionelle Öffentlichkeitsarbeit. Ausserdem stimmte die Gruppendynamik von Vorstand, Anwaltsteam und Greenpeace, auch das war wichtig für den Erfolg. Mir persönlich haben Beharrlichkeit, Empörung und Aufrichtigkeit Energie fürs Weitermachen verliehen.
Das Parlament will das Klima-Urteil ignorieren. Was löst das in Ihnen aus?
Es ist nicht ein Beschluss des ganzen Parlaments, sondern einer Parlamentsmehrheit: Ausgerechnet jene, die es zu verantworten haben, dass es überhaupt zu diesem Urteil gekommen ist, verlangen, «dem Urteil sei keine weitere Folge zu geben». Wie peinlich ist das denn? Es bleibt dabei, wir haben gewonnen! Der Bundesrat wird in der zweiten Augusthälfte bekanntgeben, wie die Schweiz das Urteil umsetzen will. Wir werden ihn mit Sperberinnenaugen begleiten, zusammen mit einer kritischen Öffentlichkeit: Nebenbei wird auch die immer spürbarere Klimakrise dafür sorgen, dass die Vogel-Strauss-Politik keine Zukunft hat.
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Das Parlament ruft den Bundesrat dazu auf, das Klima-Urteil des EGMR zu ignorieren. Doch kann er das überhaupt?
Eine Einschätzung von Raphaël Mahaim, Nationalrat VD und Anwalt der KlimaSeniorinnen.
„Die bedauernswerte Erklärung des Parlaments ändert nichts an den Tatsachen: Die Urteile des EGMR sind für die Vertragsstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention bindend. Die Schweiz ist da keine Ausnahme.
Bei Nicht-Umsetzung eines Urteils drohen zwei mögliche Konsequenzen: Einerseits kann der Ministerrat, der aus einem Minister pro Mitgliedstaat besteht, ein Land rügen und an seine Verpflichtungen erinnern. Wenn ein Urteil nicht umgesetzt wird, kann auf dieser Grundlage erneut am EGMR geklagt werden. Andererseits ist das Klimaurteil ein Präzedenzurteil. Das heisst, dass jedes Schweizer Gericht ebenfalls verpflichtet ist, es umzusetzen. Wenn die Schweizsich weigert, dass Urteil umzusetzen, kann sie auch von einem Schweizer Gericht dafür verurteilt werden. Eine Nicht-Umsetzung hat also erhebliche rechtliche Konsequenzen für die Schweiz.“