Präsidialrede Balthasar Glättli – DV 23.01.21
Für den grundlegenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel
Es gilt das gesprochene und das geschriebene Wort.
Vor 30 Jahren, Anfang 1991, nahm ich an der Gründungsversammlung der GRÜNEN Bezirk Hinwil teil. Ein kleines Säli in einem Restaurant, eher dunkel, 70er Jahre Stil, in braun und orange. Ich war bei weitem der Jüngste im Saal mit meinen gerade 19 Jahren. Der damalige Präsident der GRÜNEN Kanton Zürich, Hans Meier, schon fast 60. Nicht meine Generation! Aber seine Begrüssungsrede nahm mich mit. Sie stützte sich auf das bekannte Buch von Erich Fromm: «Haben oder Sein».
«Der Unterschied zwischen Sein und Haben (…) entspricht dem Unterschied zwischen dem Geist einer Gesellschaft, die zum Mittelpunkt Personen hat, und dem Geist einer Gesellschaft, die sich um Dinge dreht», schreibt Fromm in seinem vor 45 Jahren erschienenen Buch, das auch die Entstehung der GRÜNEN mitprägte und das die Überflussgesellschaft scharf kritisiert. «Konsumieren ist eine Form des Habens, vielleicht die wichtigste in den heutigen „Überflussgesellschaften“», fasst Fromm kritisch zusammen und beschreibt die modernen Konsument*innen kritisch mit der Formel «Ich bin, was ich habe und was ich konsumiere».
Bei diesen Worten, als ich merkte, wie positiv sie von den Anwesenden aufgenommen wurden: Da war ich als kritischer junger Mensch bei den GRÜNEN am richtigen Ort. Das war der Moment, als ich den GRÜNEN auch formell beitrat. Weil ich spürte: Hier kann ich mit Menschen zusammen die Zukunft gestalten, die meine Werte teilen.
Liebe GRÜNE
Cher Vertes, Cher Verts
Cari Verdi
Wir GRÜNE sind überzeugt: Der Mensch ist mehr als das, was er hat und was er konsumiert. Und wir wissen: Die Stärke, der echte Wohlstand einer Gesellschaft, nimmt sein Mass nicht am Überfluss, sondern an der Solidarität. Nicht an der Gier, sondern daran, dass jede*r das hat, was sie, was er braucht.
In unserem heute diskutierten Plan für eine klimapositive Schweiz fordern wir einen anderen Reichtum als den Reichtum des Habens und des Überflusses, einen anderen Fortschritt als den Fortschritt des «immer mehr», der zur Weltzerstörung führt, eine andere Freiheit als die Freiheit des rücksichtslosen Konsums.
Nicht, weil wir uns gegen Reichtum, gegen Fortschritt, gegen Freiheit einsetzen, wie uns dies einige gerne vorwerfen wollen, nein!
Sondern weil wir überzeugt sind, dass wir heute, genauso wie dies schon vor 45 Jahren Erich Fromm forderte, aus dem stählernen Korsett der Konsum- und Wegwerfgesellschaft ausbrechen müssen. Weil wir überzeugt sind, dass wir daraus ausbrechen können. Und dass wir gemeinsam nicht nur eine ökologischere, eine weltfreundlichere, eine zufriedenere, eine freiere Gesellschaft gestalten können. Sondern auch eine solidarischere, eine klimagerechte Gesellschaft, in der alle genug zum Leben haben und sich die Politik mehr am «Sein» orientiert.
So formulieren wir auch unsere Vision eines neuen Wohlstands im Klimaplan:
Sein statt haben, teilen statt verschwenden, Solidarität statt Egoismus, weniger Güter und mehr Beziehungen.
Besser statt mehr.
* * *
Ja. Natürlich habt ihr recht, wenn ihr jetzt in Gedanken einwendet: Manchmal ist sein auch haben, ist mehr auch besser! Das erleben wir ja gerade hier und heute, in diesen schwierigen Corona-Zeiten, in denen auch bei uns Grundbedürfnisse und Existenzen auf dem Spiel stehen: Über 8’000 Menschen sind bereits an Corona gestorben. Menschen stehen Schlange für Essenspakete. Schlecht bezahlte Care-Arbeiter*innen sehen nach Monaten unglaublichen Einsatzes kein Licht am Ende des Tunnels. Tausende – Gastronom*innen, Kulturschaffende, Unternehmer*innen, KMU – sind unmittelbar in ihrer Existenz bedroht. Weiterhin.
Teilen statt horten, Solidarität statt Schuldenangst: Das wäre darum das Gebot der Stunde. Stattdessen erleben wir eine bürgerliche Austeritätspolitik, die viele Menschen in schiere Existenzangst treibt.
Das ist ebenso brutal wie unnötig. Wenn EIN Land sich konsequente Corona-Schutzmassnahmen leisten könnte, dann die Schweiz. Wenn EIN Land sich eine konsequente Stützung der wirtschaftlich in ihrer Existenz Gefährdeten leisten kann, dann ist dies die Schweiz.
Was sich die Schweiz aber nicht leisten kann, ist ein Bundesrat wie Ueli Maurer. Einen Bundesrat, der noch in der grössten Krise «Finanzdisziplin» anmahnt, der sagt, es reue ihn jeder Franken, statt die Realität zu sehen. Eine Realität, in der es volkswirtschaftlich – aber auch gesellschaftlich – viel verheerender ist, tausende KMU in den Konkurs zu schicken und zehntausende Menschen in die Arbeitslosigkeit. Einen Bundesrat, der nicht auf die Ökonom*innen aus der Wissenschaft hört, die sich für einmal weitgehend einig sind, dass in der Corona-Situation eine grosszügige staatliche Hilfe nicht nur angebracht, sondern auch längerfristig vorteilhaft und mehr denn tragbar ist.
Wer hier dem Fetisch der Schuldenangst anhängt, statt die Existenz so vieler Betroffener zu schützen, setzt wahrlich die falschen Prioritäten. Und muss sich nicht wundern, wenn diese Menschen ganz grundlegend das Vertrauen in die Politik verlieren. Obwohl sie vielleicht einfach das nächste Mal eine der Parteien wählen sollten, die sich tatsächlich für sie einsetzt. Zum Beispiel uns GRÜNE.
* * *
Menschen mit Corona-Existenzangst wissen, wie wichtig Solidarität ist. Aber auch die Menschen, die noch ein Einkommen haben, merken in der Einsamkeit des Lockdowns deutlich, wie wichtig die Gemeinschaft ist, wie wichtig es ist, dass wir zusammenstehen.
Selbst wenn das Online-Shopping boomt, so fehlen uns doch allen die Begegnungen mit anderen Menschen. Uns fehlt das gemeinsame Erleben von kulturellen Veranstaltungen. Uns fehlt die gemeinsame Aktivität beim Sport, der gemeinsame Genuss eines feinen Essens in einem Restaurant, das Bier unter Freund*innen und die sorglos-herzliche Umarmung bei der Begrüssung.
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In dieser Zeit der Einschränkungen, der Verbote und der Isolation wird uns eine ganz zentrale Dimension der Freiheit wieder bewusst. Die Freiheit, zusammen zu sein, uns zu treffen, in Gesellschaft, in Solidarität zu leben: die Freiheit des Seins! Und genau in der Zeit dieser Pandemie, die uns die Freiheit des Seins wie durch ein Brennglas vor Augen führt, wirft man uns GRÜNEN absurderweise vor, mit unserem Klimaplan «die Freiheit» einzuschränken. Genau das Gegenteil ist wahr: Mit dem Klimaplan wollen wir eine Freiheit gestalten, die nicht ihr eigenes Fundament untergräbt, eine Freiheit des Seins, eine Freiheit der Zukunft – und nicht allein des egoistischen Habens und der unersättlichen Habgier im Hier und Jetzt.
Denn gestalten müssen wir sie als Gesellschaft, die Freiheit, weil: Freiheit – das ist eigentlich banal – Freiheit ist nie absolut.
Zuerst einmal gibt es die Grenzen der Realität:
Wir können uns zwar frei entscheiden zu denken und zu sagen, dass ein Fluss von der Mündung zur Quelle fliesse – allein: Der Fluss bleibt bei der Realität und fliesst von der Quelle zur Mündung.
Wir können uns zwar dafür entscheiden, die Klimaerhitzung und ihre Folgen ganz einfach zu ignorieren. Allein: Die Realität der Klimaerhitzung und ihre verheerenden Folgen bleiben.
In meiner ersten Präsidialrede vor euch, im August 2020, habe ich den amerikanischen Science-Fiction Autor Philip K. Dick zitiert, der einst gesagt haben soll: «Realität ist das, was nicht weggeht, auch wenn man nicht daran glaubt».
Und vor einiger Zeit hat Angela Merkel Furore gemacht in den Sozialen Medien mit dem Ausschnitt einer Rede: «Ich habe mich in der DDR zum Physikstudium entschieden, (…) weil ich ganz sicher war, dass man vieles ausser Kraft setzen kann, aber die Schwerkraft nicht, die Lichtgeschwindigkeit nicht und andere Fakten nicht, und das wird auch weiter gelten».
Wir haben die Freiheit zu glauben, die Welt sei eine Scheibe. Wir haben aber nicht die Freiheit, uns eine Welt zu schaffen, die weder Lichtgeschwindigkeit noch Schwerkraft kennt, eine Welt, in der die Realität einfach verschwindet.
Zum Zweiten ist oft der Einen Freiheit die Einschränkung der Freiheit des Nächsten.
Ein konkretes Beispiel: Wir GRÜNE wollen nicht nur den Ausstieg aus fossil angetriebenen Autos vorantreiben, sondern wir wollen auch generell die Städte wohnlicher machen. Und ja, das heisst, dass die Freiheit hinter der Windschutzscheibe eingeschränkt werden muss – aber weniger Freiheit für Autofahrende, das ist gleichzeitig mehr Freiheit für Velofahrende. Und wir wollen klare Regeln auch für Velofahrende: Das ist weniger Freiheit für sie – und gleichzeitig mehr Freiheit für draussen spielende Kinder.
Wenn ich wählen könnte: Meine Wahl wäre klar. Mehr Freiheit des Seins für viele, etwas weniger Freiheit des Habens für wenige.
Oder nehmen wir die Freiheit im digitalen Raum: Eine Freiheit, die Persönlichkeit anderer und ihre Privatsphäre uneingeschränkt zu verletzen – sie schränkt die Verletzten in ihren Rechten und Freiheiten ein. Wenn wir sie schützen wollen, schränken wir die Freiheit ein, alles zu sagen und zu posten.
Ich bin überzeugt: Wenn wir in der Politik von Freiheit sprechen, dann sollten, dann können wir damit nie die absolute Freiheit meinen, zu tun und zu lassen, was jede*r hier und jetzt tun und lassen will. Sondern eine Freiheit, die möglichst viele möglichst frei leben lässt – heute und auch noch morgen. In einer Demokratie sind wir alle gefordert, gemeinsam darüber zu debattieren, welche Freiheiten wir wie stark gewichten, welche Freiheiten wir zugunsten anderer vielleicht einschränken wollen.
Und in einem Rechtsstaat geht es darum, Freiheit anders zu definieren als das Recht des Stärkeren und die Macht des Reichsten. Für die Freiheit des Mensch-Seins und nicht der Stärke und Macht-Habens.
Das heisst: Mit der Freiheit kommt eben auch die Verantwortung.
Verantwortung zu übernehmen für unsere Gesellschaft, Verantwortung zu übernehmen über die eigenen Landesgrenzen hinaus und Verantwortung auch für die kommenden Generationen.
* * *
Wenn wir GRÜNE darauf pochen, dass Freiheit auch Verantwortung mit sich bringt, sind wir dann Moralisten oder wie man uns gar bösartig unterstellt «Volks-Umerzieher*innen»?
Das Gegenteil ist der Fall.
Wie wir zusammenleben, wie wir als Gesellschaft Zukunft gestalten, welchen Rahmen wir unserer Wirtschaft geben, welchen Wohlstand wir anstreben, welche Freiheiten uns am wichtigsten sind – das sind doch die Kernfragen der Politik. Und genau diese Fragen müssen wir uns umso dringender und spätestens jetzt stellen, wo wir in einer Sackgasse angelangt sind. Wo uns Pandemie, Klimakrise, Umweltzerstörung unsere Grenzen aufzeigen und uns zwingen, unsere Route zu überdenken. Wo wir alle merken, dass es die Konsument*innen, dass es die Eigenverantwortung alleine, nicht richten können.
Es ist höchste Zeit für den grundlegenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel. Für ihn müssen wir GRÜNE gemeinsam einstehen. Wir brauchen eine Schweiz, die jetzt die Weichen stellt, um grüner aus der Krise zu kommen. Doch wir GRÜNE sind nicht in der Regierung und ganz offensichtlich auch nicht das grüne Gedankengut. So verfügt unser Land – im Gegensatz zur EU, sogar im Gegensatz zu den USA unter Trump – noch immer nicht über eine Corona-Krisenbewältigungsstrategie, welche gleichzeitig die Transformation hin zu einer grüneren und sozialeren Zukunft beschleunigt.
Suffizienz, «besser statt mehr», sein statt haben – das ist im Kern eine politische Frage, eine Frage demokratischer Entscheidungen. Und nicht eine Frage der individuellen Moral.
Die Welt zu retten: Das ist nicht einfach eine Frage des individuellen Lifestyles. Sondern eine gemeinsam getragene, demokratische Verantwortung: unserer Gesellschaft, unserer Wirtschaft die passenden Rahmenbedingungen zu geben, damit unsere Produktion nicht länger auf dem Raubbau von Mensch und Natur beruht – und wirklich Wohlstand für alle schafft, statt die Lebensgrundlagen zu zerstören.
Erich Fromm hat es ganz treffend formuliert: «Zum ersten Mal in der Geschichte hängt das physische Überleben der Menschheit von einer radikalen seelischen Veränderung des Menschen ab», schreibt er – aber er schliesst nicht hier, beim einzelnen Menschen, sondern fährt fort: «Dieser Wandel im Herzen des Menschen ist jedoch nur in dem Masse möglich, in dem drastische ökonomische und soziale Veränderungen eintreten, die ihm die Chance geben, sich zu wandeln».
Unsere Aufgabe als GRÜNE ist genau dies: Im Wissen darum, dass ein Wertewandel ein individueller Entscheid jedes einzelnen Menschen ist, in diesem Wissen sollten wir eben jene Umwälzungen, jene Transformation der gesellschaftlichen, der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen demokratisch voranbringen, welche uns allen erst die Freiheit ermöglichen, anders zu leben. Nicht auf Kosten der Zukunft. Nicht auf Kosten der Mitmenschen. Weltverträglich. Sein statt haben. Das hat mich schon vor 30 Jahren überzeugt im dunklen Säli, bei den GRÜNEN Hinwil. Und es überzeugt mich heute noch.
Ich danke euch.