Die GRÜNEN im Visier des Nachrichtendienstes
Darum geht’s
Stell dir vor, du suchst die (gefährliche) Nadel im Heuhaufen. Um deine Aufgabe zu erledigen, machst du den Heuhaufen grösser. Mit einer Menge irrelevantem und eigentlich auch gar nicht erlaubtem Material. Das klingt unlogisch und absurd. Aber genau so geht der Schweizer Nachrichtendienst (NDB) vor. Das ist auch rechtsstaatlich höchst problematisch, denn: Das Nachrichtendienstgesetz legt klar fest, dass legale politische Tätigkeiten nicht fichiert werden dürfen. Dennoch erfasst der NDB auch die GRÜNEN und viele Organisationen und Bewegungen der Zivilgesellschaft. Hier erfährst du einige Hintergründe zu den Recherchen, welche SRF und die Republik heute veröffentlichen.
- Was ist passiert?
- Welche Daten hat der NDB über die GRÜNEN?
- Wieso sammelt der Nachrichtendienst so viele Daten über die GRÜNEN?
- Die GRÜNEN haben also sehr viele Einträge in den NDB-Datenbanken. Ist das schlimm?
- Sind auch grüne Exponent*innen verzeichnet?
- Wieso ist die Überwachungstätigkeit des NDB jetzt ein wichtiges Thema?
- Wirst du auch überwacht?
Was ist passiert?
Als 2019 klar wurde, dass der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) massenhaft Daten über politische Organisationen und Personen sammelt, haben wir im Namen der GRÜNEN Schweiz ein Auskunftsgesuch gestellt: Wir wollten wissen, wie stark auch wir vom Sammeleifer des NDB betroffen sind.
Im Oktober 2019 erhielten wir ein Dossier, das uns bescheinigte: Wir sind als GRÜNE Schweiz mit 2’394 Einträgen in den Datenbanken des NDB verzeichnet. Einige der Einträge erhielten wir detailliert ausgehändigt, andere wurden nur summarisch erwähnt – die erteilte Auskunft ist insofern unvollständig.
Welche Daten hat der NDB über die GRÜNEN?
Wir haben das Dossier eingehend analysiert. Viele der Daten sind Agenda-Einträge: Daten von nationalen Vorstandssitzungen oder Delegiertenversammlungen, welche der NDB in sogenannten «Lageanalysen» erfasst hat. Die meisten dieser Analysen sind schon viele Jahre alt – wurden aber nie gelöscht, obwohl die Daten nicht (mehr) relevant sind (die Löschfrist beträgt eigentlich ein Jahr).
Besonders bedenklich ist, dass die GRÜNEN Schweiz auch über 100 Mal in den beiden Datenbanken auftauchen, in welchen der NDB das Material über Gewaltextremismus und Terrorismus ablegt. Hier haben wir nur Datenbank-Zeilen erhalten, aber keine Auszüge. Oftmals handelt es sich um Berichte aus Zeitungen, in denen über die aktuelle Formkurve der GRÜNEN berichtet wird. Oder um Lageberichte von anderen Sicherheitsbehörden, welche Anlässe in der Schweiz beleuchten. Der Höhepunkt an Absurdität: Eine Reportage der Schweizer Illustrierten über eine Reise von Regula Rytz ins Ausland, wo sie Schulkinder und ein Entwicklungshilfeprojekt besucht.
Zudem: Wir wissen nicht, unter welchen Themen diese Einträge kategorisiert wurden – das ist eine Missachtung des Auskunftsrechts.
Wieso sammelt der Nachrichtendienst so viele Daten über die GRÜNEN?
Das fragen wir uns auch. Wenn man den Heuhaufen grösser macht, findet man die Nadel bekanntlich nicht schneller.
Der NDB hält im Auskunftsgesuch fest, dass die GRÜNEN Schweiz nicht als «Objekt» erfasst sind, wir also eigentlich nicht Gegenstand von Beobachtung bzw. Überwachung sind. Das klingt gut – aber: Irrelevante Organisationen oder Personen sollte der NDB einschwärzen, so dass sie nicht gefunden werden. Das ist sehr oft nicht passiert.
Noch bedenklicher aber ist, dass der NDB gemäss Nachrichtendienstgesetz (Art. 5 Abs. 5) grundsätzlich keine Informationen über die politische Betätigung und über die Ausübung der Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit in der Schweiz beschaffen und bearbeiten darf. Diesen Grundsatz hat der NDB missachtet. Er hat den Heuhaufen nicht nur grösser gemacht, sondern auch Material hinzugefügt, das er nicht hätte sammeln dürfen.
Die GRÜNEN haben also sehr viele Einträge in den NDB-Datenbanken. Ist das schlimm?
Ja, das ist ein Problem, und zwar aus verschiedenen Gründen:
Rechtsstaatlichkeit
Dass von einer etablierten, nationalen Partei derart viele Einträge vorhanden sind, ist rechtsstaatlich problematisch. Wir sind Teil des Parlaments, das auch eine Aufsichtsfunktion über den Nachrichtendienst ausübt. Gleichzeitig sind wir offensichtlich – mehr oder weniger absichtlich – Gegenstand der Überwachung des NDB. Dabei hat das Gesetz dem NDB klare Regeln vorgegeben, zu welchen Themen er Informationen sammeln darf (Terrorismus, gewalttätiger Extremismus, Angriffe auf kritische Infrastrukturen, verbotener Nachrichtendienst, Weiterverbreitung von ABC-Waffen), und zu was nicht (politische Tätigkeiten). Diese Regeln hat der NDB offensichtlich nicht eingehalten.
Organisationskultur
Eine solche bizarre Überwachungs-Tätigkeit untergräbt das Vertrauen in unseren Staat. Und sie zeugt vor allem davon, dass die Mentalität und Kultur im Nachrichtendienst noch immer die gleiche ist wie zur Zeit der Fichen-Affäre – auch wenn diese in ihren individuellen Auswirkungen zweifellos einschneidender war. Der NDB zieht einen weiten Zaun, was die Überwachung von Politik und Zivilgesellschaft angeht, der Dunstkreis von gewalttätigem Extremismus und Terrorismus wird absurderweise bis in die nationale Politik ausgeweitet. Das ist gefährlich für unsere freiheitliche Gesellschaft und soziale Bewegungen, welche sich in der Zivilgesellschaft für ihre Anliegen einsetzen.
Profiling
Es gibt von den GRÜNEN Schweiz keine «Mappe» oder «Karteiablage» im klassischen, physischen Sinn. Aber im Zeitalter von digitalen Datenbanken ist das auch nicht mehr nötig, um über eine «Fiche» zu verfügen, welche eine Organisation oder Person profiliert. Rein durch einen Suchlauf von Stichworten in der Volltextsuche, über alle Datenbanken hinweg, entsteht ein Bild darüber, welche Tätigkeiten und Ansichten Akteure vertreten («Profiling»). Deshalb ist auch die Beschwichtigung, es gebe keine «Fiche» über die GRÜNEN, nutzlos. Wir kritisieren dies grundsätzlich als unzulässige und grundrechtsverletzende Überwachung von (friedlicher) Zivilgesellschaft und (etablierter) Politik.
Prioritätensetzung
Der NDB ist offensichtlich überfordert mit dem Management seiner Datenbanken: Irrelevante Daten werden nicht geschwärzt und die gesammelten Daten werden nach dem Ablauf der gesetzlichen Fristen nicht gelöscht. Im Gegenzug werden viel zu viele Daten unrechtmässig gesammelt, die friedliche Zivilgesellschaft breit beobachtet – dabei sollte der Nachrichtendienst eigentlich seinen wirklichen Aufgaben nachkommen. In einer Welt, in der wieder vermehrt zu Kriegswaffen gegriffen wird, sollten die Prioritäten der Recherchen über die Gefahrenlage andere sein.
Sind auch grüne Exponent*innen verzeichnet?
Diverse nationale grüne Politiker*innen haben ebenfalls ihr Auskunftsgesuch eingeholt. Das Bild ist sehr unterschiedlich: Einige verfügen über ausführliche Dossiers, die ähnlich fragwürdige Einträge aufweisen wie die GRÜNEN als Organisation. Andere Personen sind praktisch nirgendwo verzeichnet. Es ist davon auszugehen, dass die ausführlichen Dossiers nur die bekanntesten grünen Persönlichkeiten betreffen.
Wenn du es für dich genau wissen willst, so kannst du hier einen Musterbrief herunterladen, um dein eigenes Auskunftsgesuch einzuholen.
Wieso ist die Überwachungstätigkeit des NDB jetzt ein wichtiges Thema?
Vor zwei Wochen hat der Bundesrat die Revision des Nachrichtendienstgesetzes eröffnet. Darin will er die Kompetenzen des NDB erneut massiv ausweiten. Gemäss der Vernehmlassungsvorlage soll es dem NDB neu erlaubt sein, sehr invasive Überwachungsmethoden (sogenannte «GEBM» – diese umfassen beispielsweise das Eindringen in Computer, Abhör-Aktionen, die Ortung von Personen oder das Durchsuchen von Räumlichkeiten) auch beim blossen Verdacht auf gewalttätigen Extremismus einzusetzen. Unser Dossier zeigt, dass der NDB diese Definition viel zu grosszügig auslegt – es besteht also die Gefahr, dass die invasive Überwachung neu auch politisch aktive Personen betrifft, denen der NDB ein Gewaltpotenzial attestiert. Wir sehen in unserem Dossier, wie weit der NDB die Grenzen zieht, was er für relevanten gewalttätigen Extremismus betrachtet.
Dabei ist der NDB – und das zeigt unser Dossier auch – von seinen Datenbeständen wie auch den Sammel-Kriterien überfordert. Wir fordern deshalb, dass diese Revision sistiert wird, bis der NDB seine übereifernde Überwachung nachweislich eingeschränkt hat, die Grenzen enger zieht und seine Datenbestände tatsächlich gemäss den geltenden gesetzlichen Regeln managt. Vorher ist es nicht nur falsch, sondern auch unverantwortlich, dem NDB noch mehr Kompetenzen zu geben.
Wirst auch Du überwacht?
Wenn du es für dich genau wissen willst, kannst du einen Musterbrief herunterladen, um dein eigenes Auskunftsgesuch einzuholen.