Liebe GRÜNE

Ich möchte ein Missverständnis ausräumen: Ich höre nicht mit der Politik auf. Das war nie meine Absicht.

Sich aus der Welt zurückziehen, um den eigenen Garten zu pflegen? Sich in Selbsthilferatgeber verlieren und schnell vom Shiatsu zum Pilates rennen? Seine ganze Zeit damit verbringen, eigene vegane Joghurts zuzubereiten oder seine eigenen Waschmittel zu mischen? Und vor allem: diese düsteren Zeiten verdrängen und vergessen?  Wir sind dieser Versuchung alle von Zeit zu Zeit ausgesetzt.

Doch es ist keine Option. Weder für die GRÜNEN noch für mich. Und auf keinen Fall jetzt.

Wir haben die Verantwortung, uns einzubringen, mitzugestalten. Wir haben Zukunftslust. Wir wollen die Welt verändern, sie gerechter, nachhaltiger und glücklicher machen.

Mein Sohn wurde letzten Sommer eingeschult. Während der ersten Schulwoche, als das Thermometer in Genf fast 40 Grad erreichte, empfahl man uns, die Kinder zuhause zu behalten. Es war schlicht zu heiss in den Klassenzimmern.

Die Beschleunigung der Klimaerwärmung hat unser Land verändert. Das Leben unserer Kinder. Das Leben der Seniorinnen und Senioren.  Genauso wie die Arbeitsbedingungen im Freien oder in der Landwirtschaft.

Wir befinden uns an einem Wendepunkt. Die schlimmsten Szenarien scheinen sich zu bewahrheiten und das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens rückt immer mehr in die Ferne.  

Drei Grundtendenzen lassen sich in diesem Kontext ausmachen:

  • Die Klimaskeptiker*innen spüren Aufwind: 2015 verkündete Trump: «Ich glaube nicht an den Klimawandel. Wetter ändert sich nun mal!» 2023 war es dann die SVP, die die Meteorologen zur Zielscheibe machte. Heute verbreitet der Präsident der grössten Partei der Schweiz Fake-News und stellt öffentlich die Ursachen des Klimawandels infrage. Gemäss ihm ist der Klimawandel «nicht schlecht für die Bauern». Soll er dies doch den vielen Bäuerinnen und Bauern erklären, die in den letzten Jahren ihre Kühe verkaufen mussten, weil sie wegen der Trockenheit weder Futter noch Wasser hatten.
  • Frauen- und Minderheitenrechte geraten unter Druck: Indem sie das Schreckgespenst der «Wokeness» beschwören, stellen konservativen Kräfte Gleichstellungsbüros infrage und befeuern Hassreden gegen Schwule, Lesben oder trans Menschen. Immer mehr junge Männer wünschen sich eine Rückkehr zur «traditionellen» Rollenverteilung. Zahlen werden manipuliert, um geschlechtsbedingte Lohnungleichheiten abzustreiten. Und die 2 Milliarden Franken, welche die letzte AHV-Reform pro Jahr kostet, werden kurzerhand den Frauen aufgebürdet, die nun ein Jahr länger arbeiten müssen.
  • Der Rechtspopulismus ist auf dem Vormarsch – auch in Europa und der Schweiz. Befeuert auch durch die Destabilisierungsstrategie von Russland in den Demokratien dieser Welt. Selbst der Schweizer Nachrichtendienst warnte letztes Jahr bei den Wahlen vor russischer Einflussnahme. All das ist kein Zufall.

2018 und 2019 hat sich unsere Gesellschaft tiefgreifend verändert: Sie wurde sich des Klimanotstands bewusst. Seither verharrt das Klima in den tristen Top 3 des Sorgenbarometers unserer Bevölkerung.

Gleichzeitig haben die «Me Too»-Bewegung und die Mobilisierungen der Frauen die Sensibilität für Geschlechtergerechtigkeit neu geschärft.

Und jetzt?

Diese Errungenschaften sind in Gefahr. Sie zu verteidigen, ist eine motivierende Aufgabe. Und ich bin zuversichtlich, dass wir es schaffen.

Wenn ich mir Magdalena anschaue, unsere Co-Präsidentin der Jungen Grünen, wie sie in der «Arena» eine Bundesrätin herausfordert, kompetent, mutig, leidenschaftlich; wenn ich sehe, wie Pia und Anne Seite an Seite mit so vielen anderen Klimaseniorinnen ihre Sache bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte tragen – ja, dann bin ich wirklich zuversichtlich. In dieser grossen grünen Familie, die wir alle gemeinsam bilden, liegt eine grosse Kraft!

Ich danke euch von ganzem Herzen für das Vertrauen, das Ihr mir durch diese Wahl entgegenbringt, und ich freue mich, mit euch diesen starken, progressiven Stimmen Gehör zu verschaffen.

Aber wir GRÜNEN wollen nicht nur Errungenschaften verteidigen. Wir wollen weitergehen. Eine tiefgreifende Wende verwirklichen. Und wir sind die einzigen, die das schaffen können.

Wir sind die politische Kraft, bei der das Klima und die Natur immer oberste Priorität haben, bei Rücken- wie bei Gegenwind. Wir sind die politische Kraft, die Gleichstellung und Vielfalt lebt, seit unserer Gründung vor 40 Jahren.

Wir sind die politische Kraft, die vor dem Rechtspopulismus und seinen Abschottungsdiskursen keinen Millimeter zurückweicht. Wir stehen für die Rechte eines jeden Menschen ein, unabhängig von Herkunft und Lebensweg.

Wir setzen dem Populismus unsere Überzeugungen entgegen. Wir bieten ihm die Stirn. Haltung ist wichtiger als kurzfristige elektorale Erfolge.

Haltung haben bedeutet aber auch, sich selbst kritisch zu hinterfragen. Nur so kann ein Austausch mit dem Gegenüber stattfinden. Beides, die klare Haltung und die Offenheit, zeichnet uns GRÜNE aus, und darauf können wir stolz sein.

Natürlich, Wahlniederlagen schmerzen. Aber sie erschüttern uns nicht. Wir wissen, wie wir stärker wiederkommen. Wir haben das im Laufe unserer Geschichte oft genug getan. Und die Geschichte gibt uns recht: Als wir zum ersten Mal die Solarenergie fördern wollten, wurden wir belächelt. Träumer*innen! Nun erlebt die Schweiz den grössten Solarboom ihrer Geschichte. Mit unserer Initiative für eine Grüne Wirtschaft waren wir Visionär*innen. Heute hat das Parlament die Grundpfeiler für eine Kreislaufwirtschaft gesteckt, welche die begrenzten Ressourcen unseres Planeten schont. Wir – allen voran Ruth Genner – wurden angefeindet, als wir die Ehe für alle forderten. 2021 haben Kantone und Stimmbevölkerung überdeutlich JA zur Ehe für alle und den dazugehörenden Rechten gesagt.

Diese Veränderungen sind das Resultat eines visionären, unermüdlichen und mutigen Engagements.

Eine Person, die dieses Engagement beispielhaft verkörpert, ist Balthasar. In den letzten acht Jahren lernte ich ihn als jemanden kennen, der voller Überzeugungen ist, und trotzdem nicht glaubt, er habe die Weisheit auf seiner Seite. Unser Antrieb sind nicht Ämter, sondern Werte. Wie jene Balthasars, der sich für eine solidarische Schweiz einsetzt, welche das Banner der Menschenrechte, der demokratischen Grundsätze und des Asylrechts hochhält. Diese Werte werden uns weiterhin als Richtschnur dienen. Ich freue mich, die Arbeit mit Dir, Balthasar, fortzuführen, gegen das Sirenengeheul der Abschotter und für eine offenere Gesellschaft. Ganz ehrlich, ein riesiges Dankeschön für Deine Arbeit, Deine Reflexionsfähigkeit, Dein Interesse für die anderen und für Deinen vierjährigen Einsatz als Präsident in einer krisengeprägten Zeit

Zuerst das Coronavirus, dann die Kriege in der Ukraine und in Gaza. Du hast es geschafft, Kurs zu halten.

In einer unruhigen Welt benötigen wir genau einen solchen Kompass.

Die Klimakrise ist auch eine Krise der Solidarität. Wisst ihr, dass nur 20 Prozent der Weltbevölkerung jemals ein Flugzeug bestiegen hat? Es geht also um Solidarität mit den zukünftigen Generationen, aber auch um Solidarität mit dem Globalen Süden. Jene, die die Folgen des Klimawandels besonders stark spüren, haben kaum je von der Nutzung fossiler Energien profitiert.

Wir brauchen mehr Solidarität!

In der Ukraine sterben jeden Tag zahllose Menschen wegen dem imperialistischen Wahn Putins. Und was tut die bürgerliche Mehrheit in der Schweiz? Sie weigert sich, substanzielle Mittel für die Wiederaufbauhilfe der Ukraine bereitzustellen. Sie weigert sich, das Problem der Finanzierung des von Putin geführten Krieges konsequent anzugehen. Sie weigert sich, den Rohstoffsektor endlich besser zu regulieren.

Heute denke ich auch an all die Kinder, an all die Frauen und Männer, die in Gaza getötet wurden. Wir GRÜNE haben den terroristischen Angriff der Hamas auf Israel vom 7. Oktober aufs Deutlichste verurteilt und rufen konsequent zur Befreiung der im Gazastreifen festgehaltenen Geiseln auf. Fest steht aber auch: Nichts rechtfertigt die wiederholten Verletzungen des Völkerrechts seitens der Regierung von Netanjahu. Nichts rechtfertigt die Aushungerung der Bevölkerung in Gaza, die pausenlose Bombardierung von dichtbesiedelten Städten oder das massenhafte Töten von Zivilist*innen.

Und was tut die Schweiz, das Land der Genfer Initiative? Bundesrat Cassis streicht in Palästina engagierten NGOs willkürlich die Gelder. Das Parlament friert die Mittel für die UNRWA, die vor Ort ein überlebenswichtiges Engagement leistet, ein. Ein zynisches Spiel!

Die Schweiz soll und muss eine Rolle auf dem internationalen Parkett spielen und ihre militärische Neutralität in den Dienst eines dauerhaften Friedens stellen. Nicht naiv, sondern wirkungsvoll.

Auch in der Schweiz braucht es mehr Solidarität. In der Schweiz, wo sich Ungleichheiten gefährlich auftun. Zu viele Kinder wachsen in unserem reichen Land in Armut auf.

Aber: Vor einem Monat erlebten wir in der Schweiz ein politisches Erdbeben. Mit einer aussergewöhnlich hohen Stimmbeteiligung gelang es, die AHV zu stärken. Endlich! Ein echter sozialer Fortschritt! Nutzen wir jetzt diesen Elan, für mehr Umverteilung, für mehr Solidarität. Mit Sans-Papiers, mit Langzeitarbeitslosen, mit Familien, Alleinerziehenden und Working Poors. Mit einem bedingungslosen Grundeinkommen für alle Kinder und einer Steuer auf alle Erbschaften.

So ungleich in der Schweiz die Vermögen verteilt sind, so ungleich ist auch der Zugang zu einer gesunden Umwelt. Wer wohnt in der Anflugschneise eines Flughafens oder entlang einer Hauptverkehrsader? Es sind jene, die sich keine Wohnung anderswo leisten können. Wer leidet am stärksten unter der Hitze? Es sind jene, die sich nicht ins Grüne zurückzuziehen können und in den Hitzeinseln schmoren müssen.

Wir GRÜNE sind davon überzeugt, dass die Klimakrise eine Chance für einen Paradigmenwechsel ist. Wir können jetzt hier für mehr Gerechtigkeit sorgen, jeder und jedem Zugang zu einer gesunden Umwelt ermöglichen, zu einer guten Gesundheit, einem hochwertigen Zuhause und zu einer nachhaltigen Ernährung.

Sicher, die Kaufkraft ist entscheidend für Menschen mit geringem Einkommen. Aber sobald ein würdevolles und glückliches Leben gesichert ist, streben die meisten Menschen nach etwas anderem: nach mehr Zeit, mehr Austausch, mehr Lebensqualität, mehr Gemeinschaft. Es geht darum, besser zu leben.

Wie gelingt uns diese Wende? Es ist die Arbeit von uns GRÜNEN, die progressiven Kräfte des Wandels zusammenzubringen und die Schweiz zu gestalten.

Vor zwei Jahren hatte ich Gelegenheit, der Glarner Landsgemeinde beizuwohnen. Von Genf aus dauert die Zugreise fünfeinhalb Stunden. Und Glarus ist schon… anders! Aber als ich Eva-Maria zuhörte, unserer 26-jährigen Gemeinderätin, wie sie einen Kompromiss für autofreie Sonntage im Klöntal verteidigte, und sich durchsetzte, war mir alles sehr vertraut. Als ich die Geschichte von Maurus in der Schaffhauser AZ las, unseres Grossrates, der eine Solarkooperative gegründet hat, um aus jedem Dach eine Stromproduktion zu machen, fühlte ich mich auf schöne Weise verbunden mit dem anderen Ende der Schweiz. Und letzte Woche, als Benedetta de Marte, die Generalsekretärin der European Greens, an einem Podium in Zürich von den Europawahlen erzählte, da schien es mir, als diskutierten wir über Lokalpolitik. Es ist ermutigend zu wissen, dass es überall solche kraftvollen Stimmen gibt, die unsere Welt grüner machen. Zwar leben wir in unterschiedlichen Realitäten, doch sind wir alle vom selben Projekt getrieben: einer besseren Zukunft.

Wer mobilisieren will, muss auch Platz für Austausch und Debatten schaffen. Künftig wollen wir uns bei einem jährlichen Treffen, quasi einem Gipfel, austauschen: Über die Postwachstumsökonomie, ein neues Verhältnis zur Arbeitswelt, die Klimagerechtigkeit, den Frieden in Krisenzeiten, die Gleichstellung und alles, was sonst wichtig ist. Zusammen mit internationalen Gästen wollen wir über die Welt von Morgen nachdenken und darüber, wie wir dorthin gelangen.

Aber wir wollen nicht nur in die Debattierzimmer gehen, sondern auch zu den Leuten. Wir haben gleich mehrere Initiativen am Start: unsere Solar-Initiative, die Finanzplatz-Initiative und die Europa-Initiative. Und auch Referenden werden wir, falls nötig, ergreifen: Die Bürgerlichen spüren keine Grenzen mehr und hebeln im Parlament den Umwelt- und Lärmschutz aus. Wohnungen mitten im Lärm: Wir sind bereit für das Referendum.

Dieses Jahr wird mindestens so wichtig wie das vorangegangene: In diesem Jahr gewinnen wir das Stromgesetz, kämpfen wir für mehr Biodiversität und verhindern wir Megastrassen und einen massiven Kulturlandverlust. Ihr seht es: Eine Abstimmung folgt der nächsten. Die Zukunft entscheidet sich jetzt. Wir sehen uns auf Avanti Verdi für das Organisieren, aber dann auf der Strasse fürs Überzeugen. Zusammen machen wir Zukunft.

Liebe GRÜNE: Ich gehe mit viel Respekt an diese neue Verantwortung heran. Es braucht uns GRÜNE mehr als je zuvor. Und zwar nicht im eigenen Garten, sondern im Zentrum der öffentlichen Debatte. Um den eigenen CO2-Fussabdruck zu senken, ist eine einzige Stimme für die GRÜNEN 15-mal wirksamer als das ökologischste Verhalten.  Ich bin stolz, auf euch alle zählen zu können. Ich werde mit vollem Einsatz für die grüne Sache kämpfen. Zusammen machen wir Zukunftslust! Für alle Generationen, überall in der Schweiz.