Liebe Kolleginnen und Kollegen 

Es ist mir eine grosse Freude, euch heute in Herisau zu begrüssen. Wir legen heute den Grundstein einer neuen Kantonalsektion. Es ist grossartig, zu sehen, wie sich GRÜNE hier zusammenschliessen, und hoffentlich bald gemeinsam für eine gerechte Gesellschaft und das Klima kämpfen. 

Dass dies gerade jetzt passiert und nicht schon vor fünf, sechs Jahren, während der Blütephase des Klimastreiks, freut mich ganz besonders. Die Medien werden ja derzeit nicht müde, zu schreiben, die grüne Welle sei vorbei. Das Klima bewege die Menschen nicht mehr. 

Der heutige Tag beweist: Das Gegenteil davon ist wahr. Je grösser der Gegenwind, desto entschlossener unser Engagement, desto wichtiger unsere Arbeit. 

Und nach sechs Monaten unterwegs, bei euch, ist mein Fazit klar: Ihr seid voll mobilisiert! 

Als ich heute früh im Zug nach Herisau sass und aus dem Fenster sah, erinnerte ich mich an einen Film, den ihr sicher alle gesehen habt. Die göttliche Ordnung. Der Film spielt in Appenzell. 

Petra Volpe erzählt darin die Geschichte von Nora, einer Hausfrau und Mutter, die gerne wieder einer Arbeit nachgehen würde, es aber nicht darf, weil ihr Ehemann (und das Ehegesetz) es ihr verbieten. Der Film ist ein eindrückliches Zeugnis davon, wie wichtig der Kampf für Grundrechte und die Beteiligung von jeder und jedem an der Demokratie ist. Das ist unser Kampf. 

In Ausserrhoden erhielten die Frauen erst 1989 das volle Stimmrecht (kantonal). Manchmal dauert es ein bisschen länger, bis sich das Neue in diesem Kanton durchsetzt. Aber wenn es einmal geschafft ist, dann gibt es kein Zurück mehr. Ich bin überzeugt, dass es auch mit unseren GRÜNEN so sein wird. 

Aber die göttliche Ordnung ist noch aus einem anderen Grund interessant. Der Film macht sichtbar, wie Konservative in unserem Land ihre Ideologie durchsetzen, indem sie sich auf Gott und die Religion berufen. 

Heute sehen wir ähnliche Muster in einem anderen Kontext. Nicht bei den Grundrechten, sondern bei der Finanzpolitik. 

«Ein Segen», sei die Schuldenbremse, erklärte kürzlich Bundesrätin Karin Keller-Sutter. «Ein Segen!» 

Machen wir den Fact-Check: Nein, die Schuldenbremse ist keine göttliche Schöpfung, sondern eine Erfindung der neoliberalen Rechten. 

Nein, die Schuldenbremse ist kein Segen, sondern eine Religion. Eine Religion rechtskonservativer Prägung. Nur so ist es zu erklären, dass ein Land mit einer der tiefsten Schuldenquoten weltweit, sich selbst einem massiven, wirtschaftlich nicht notwendigen, Abbaupaket unterzieht.  

Die Religion folgt einem Dogma. Jenseits der Dogmen können wir jedoch folgendes festhalten: 

Erstens: Die Finanzlage des Bundes ist gut und stabil. 

Zweitens: Während beim Klimaschutz und der Chancengleichheit gekürzt wird, steigen die Militärausgaben unaufhaltsam. Mehr Geld für die Armee, weniger Geld für die KITAs, die Nachtzüge, den öV, die energetische Sanierung von Gebäuden, die Hochschulen, Prämienverbilligungen, die AHV und die Kultur. Mit seiner eher unschweizerischen Machtdemonstration missachtet der Bundesrat die Entscheide des Parlaments und der Stimmbevölkerung. Gleichzeitig wagt er es nicht, die massive Budgeterhöhung für die Armee der Bevölkerung zur Abstimmung vorzulegen. 

Beim Abbaupaket handelt sich um ein ideologisches Vorhaben, das uns überall dort Rückschritte aufzwingt, wo die Gesellschaft in den letzten Jahren Fortschritte erzielt hat. Das Abbaupaket ignoriert die grossen Herausforderungen unserer Zeit. Die Klimakrise? Wird geleugnet. Die Frauen? Sollen zu Hause bleiben und sich um die Kinder kümmern. Die Reichsten? Behalten ihre Privilegien. Mit schweren Geschützen gesicherte Grenzen runden dieses Bild der Schweiz ab. Letztlich handelt es sich beim Abbaupaket um ein Projekt der Abschottung, das sich gegen Frauen, gegen die Jugend und gegen die Zukunft richtet.    

Armee, Autobahnen und Atomkraft heissen die Schlagwörter. Es scheint, als ob die Mitglieder des Bundesrats in ihrer Jugendzeit steckengeblieben sind. Man fragt sich, ob sich die Bundesrätinnen und Bundesräte bewusst sind, dass sich die Welt verändert hat. Haben sie überhaupt eine Vorstellung davon, wie sich die Welt in den kommenden 30 Jahren verändern wird? Etwa davon, dass grosse Herausforderungen wie die Klimakrise und die Überalterung der Bevölkerung unser Land umwälzen werden? 

Eine Zukunftsvision und Voraussicht, genau das ist es, was von einer Regierung erwartet wird. Aber der Bundesrat hebt die Milliarden lieber für rückwärtsgewandte Träumereien auf und zerlegt die Klima- und Umweltpolitik. Die Botschaft ist eindeutig: Liebe Bürgerinnen, liebe Bürger: Schauen Sie selbst, wie sie zurechtkommen! 

Wer wird den Preis dafür bezahlen? Wir alle! 

Wer Investitionen in die Zukunft verweigert, bereitet dem Chaos den Weg. 

Wir GRÜNE werden dieses umweltfeindliche und gegen die Chancengleichheit gerichtete Abbaupaket mit Entschlossenheit bekämpfen: und zwar in den Kommissionen, im Parlament, und falls nötig, in einer Volksabstimmung. Wir werden es versenken! 

Denn unsere Antwort ist eine Vision.     

In diesem Kampf «Vergangenheit gegen Zukunft» stehen wir GRÜNE für die Zukunft. Damit jede und jeder gut leben kann, hier und auf der ganzen Welt. Und zwar in einer gesunden Umwelt, wo das Klima geschützt, die Menschenwürde geachtet und die Gleichstellung verwirklicht wird; und wo Herkunft, Identitäten und Vorlieben nicht Gegenstand von Diskriminierungen sind. 

Dieses Abbaupaket ist nicht einfach eine ideologische Schreibtischarbeit aus dem Departement der Finanzministerin. Es ist Teil eines Plans und es verkörpert die neue Realität im Bundeshaus und im Bundesrat. 

Wir treffen uns heute exakt ein Jahr nach den nationalen Wahlen. Ein Jahr nach dem Rechtsrutsch. 

Was sehen wir, wenn wir die Ereignisse der letzten zwölf Monate zusammenfassen? Welches Bild ergibt sich? Welchen Werten folgt der Bundesrat? Welche Prioritäten setzt er? 

Ihr wisst es so gut wie ich, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bilanz ist empörend. 

Erstens: Der Bundesrat pfeift auf die Konkordanz und spielt die absolute Mehrheit von vier FDP- und SVP-Sitzen gnadenlos aus. 

Zweitens: Das Erstarken der extremen Rechten erschüttert die Grundpfeiler unserer demokratischen und universellen Werte. Und sie untergräbt die Menschenrechte und das Völkerrecht. 

Wir kennen die Faktoren, die es der populistischen Rechten ermöglichen, an die Macht zu gelangen. Es geht einerseits um die Unzufriedenheit mit der aktuellen Politik, andererseits um die Normalisierung ihrer Ideen durch die traditionelle Rechte. Die FDP ist gerade dabei, uns ein Musterprobe davon vorzuführen. Ihre erbärmliche Imitation des Tonfalls und der unmenschlichen Vorschläge der SVP ist inakzeptabel. Während der letzten Session hat die rechte Mehrheit der UNRWA den Geldhahn zugedreht, der einzigen Organisation, die imstande ist, der palästinensischen Bevölkerung zu helfen, der es an allem fehlt und die ums Überleben kämpft. Sie hat den Familiennachzug für Kriegsgeflüchtete aufgehoben. Und sie will Milliarden streichen bei der internationalen Solidarität und bei Projekten der Entwicklungszusammenarbeit für notleidende Menschen oder von bewaffneten Konflikten bedrohten Bevölkerungsgruppen.  

Die Lage ist ernst. 

Vor Populismus, Hass und Fremdenhass weichen wir keinen Millimeter zurück.  

Wir sind bereit für diese Referendumslegislatur.  

Ja, diese Legislatur wird eine Referendumslegislatur. Eine Legislatur, in der wir die schlimmsten ideologischen Entgleisungen dieser rechten Mehrheit in Bundesrat und Parlament gemeinsam mit der Stimmbevölkerung stoppen müssen. 

Das wird nicht einfach. Wir werden oft auf der Strasse sein. Stift und Unterschriftenbogen in der Hand. Wir werden viel Zeit in Komiteesitzungen verbringen. Beim Flyerverteilen. Bei Standaktionen. In Bürgerforen. An Podiumsdiskussionen. 

Die gute Nachricht: Wir werden gewinnen. Ja, wir haben bereits gewonnen. 

Die vereinigte Rechte lehnte eine Stärkung der AHV ab. Wir haben es trotzdem geschafft. Mit 58 Prozent Ja. 

Die vereinigte Rechte wollte höhere Abgaben und tiefere Renten. Nicht mit uns. Zwei Drittel der Bevölkerung sagten Nein. Zwei Drittel! 

Und jetzt kommt der November: 

Liebe GRÜNE: Wir werden unsere Mobilisierungsanstrengungen gegen diese Mega-Autobahnen verdoppeln! 

Jetzt, wo überall gespart wird, sollen über fünf Milliarden für Megastrassen mit acht Fahrspuren und doppelstöckigen Fahrbahnen ausgegeben werden? NEIN! Übel zusammengeschusterte Bauvorhaben, die unser Ackerland auffressen? NEIN! Zehntausende zusätzliche Autos, die unter unseren Fenstern vorbeibrausen, dort, wo unsere Kinder zur Schule gehen und sich ältere Menschen fortbewegen? NEIN! Noch mehr Verschmutzung, Lärm und CO2-Ausstoss? Ganz eindeutig: NEIN! 

«Die Autobahn verläuft somit mitten durch die Stadt. So hat es die Regierung entschieden. Damit übergeht sie den Widerstand von 6000 Bewohnerinnen und Bewohnern von Morges und lässt die Meinung ausländischer Expertinnen und Experten ausser Acht. Die Konsequenzen dieses Fehlers werden für alle schwer zu ertragen sein, die mit dem schrittweisen Anstieg des Verkehrs unter der stetig wachsenden Lärmbelastung leiden werden.» So heisst es in einem Auszug einer RTS-Doku mit dem Titel «Die Hölle von Morges». Die Reportage datiert aus dem Jahr 1986. 

Und wie sieht es heute aus? Die Meinung der Expertinnen und Experten wird ignoriert: Studien zeigen, dass die Ausweitung der Fahrspuren die Staus nicht verringern wird. Das ist logisch: Man macht Platz für mehr Autos, bis es wieder zur Verkehrssättigung kommt. Und diese zusätzlichen Zehntausende von Fahrzeugen werden auf der Autobahn nicht Halt machen, sondern ihre Zielorte in Städten und Dörfern ansteuern.  

Der lokale Widerstand wird ignoriert: Die Bevölkerung zahlreicher betroffener Gemeinden mobilisiert sich und kämpft gegen die Ausweitung der Megastrassen.  

Und für die Folgen lässt man die Bevölkerung die Zeche bezahlen: Denn wir wissen ja, dass sich die Kosten für die Gesundheit und das Klima auf über 21 Milliarden Franken beziffern. Bezahlt von uns allen. 

Doch die Geschichte muss sich nicht zwangsläufig wiederholen. Wir können diese Abstimmung gewinnen. Und wir wissen, wie man das anstellt, weil wir Teil dieser Bewegungen sind. 

Der Anti-Atomkraft-Bewegung, die über viele Jahre vor den Risiken der Atomenergie und ihrer radioaktiven Abfälle gewarnt hat. Und all jener Bewegungen, die sich schon seit Jahrzehnten gegen den masslosen Autobahnausbau einsetzen.   

Liebe GRÜNE: Ich habe jüngst die Welt von Instagram betreten. Ihr könnt mir jetzt folgen, entweder auf Französisch oder Deutsch! Um die deutschen Grünen in den sozialen Medien zu zitieren: Ja, wir sind schuld an der Energiewende und der Entwicklung der Solarenergie. Ja, wir sind schuld an den Nachtzügen. Ja, wir sind schuld an den Tempo-30-Zonen. Ja, wir sind schuld an der Ehe für alle. Ja, wir sind schuld an der fairen Arbeitsteilung unter Paaren. Ja, wir sind schuld an der neuen opfergerechten Vergewaltigungsdefinition. Ja, wir bekennen uns schuldig für unseren grenzenlosen Einsatzes für das Klima, die Umwelt, die Gleichstellung und für eine offene und solidarische Schweiz. Und wir sind fest entschlossen, rückfällig zu werden!