Liebe Grüne,

„Gring abe und sekle“. Mit diesem Motto ist die Leichtathletin Anita Weyermann vor ein paar Jahren aufs Podest gelaufen. Auch ich habe heute meine Rennschuhe an. Wir sind im Schlussspurt. Im sportlichen Schlussspurt. In genau acht Wochen finden die nationalen Wahlen statt. Es ist eine Richtungswahl zwischen Bankkonto und Menschlichkeit, zwischen Klimakatastrophe und Cleantech-Arbeitsplätzen, zwischen grau und grün.

Neben Ausdauer und guten Laufschuhen brauchen wir für einen erfolgreichen Schlussspurt drei weitere Zutaten. Den Kopf, das Herz und das Rückgrat. Ein Rückgrat, wie es Marie Grimm vor 80 Jahren hatte. Marie Grimm. Eine Fabrikarbeiterin aus Schaffhausen, die 1937 Flüchtlinge über die Grenze in die Schweiz schleuste und sie damit vor den Folterkellern der Gestapo rettete, der Geheimen Staatspolizei der Nationalsozialisten. Marie Grimm war eine der vielen Menschen, die nicht mit den Hunden heulte. Marie Grimm stand nie im Scheinwerferlicht, nein, sie ist in der grossen Geschichte des zweiten Weltkrieges nur eine kleine Randnotiz. Manchmal denke ich: Hätte es damals, 1937, mehr Menschen wie Marie Grimm gegeben, dann wäre die Katastrophe des zweiten Weltkrieges noch zu stoppen gewesen. Doch es kam anders heraus, wie wir wissen.

Nie wieder darf sich ein solches Verbrechen gegen die Menschlichkeit wiederholen, wird immer wieder gesagt. Doch haben wir aus der Geschichte wirklich gelernt?

Heute befindet sich die sogenannte „Nachkriegsordnung“ im freien Fall. Noch nie seit 70 Jahren waren so viele Menschen auf der Flucht, vor Krieg, Gewalt, Hunger und Hoffnungslosigkeit. Doch die Länder Europas ziehen die Grenzzäune hoch. Sowie die Schweiz vor 75 Jahren, als sich jüdische Flüchtlinge hier in Schaffhausen über den Rhein oder in Genf über die Rhone zu retten versuchten.

Auch heute heisst es wieder: Das Boot ist voll. Die sogenannten Schulterschlussparteien, die SVP, die FDP und die CVP, überbieten sich mit Vorschlägen zur Abschaffung des Asylrechtes und wollen die humanitäre Tradition der Schweiz entsorgen. Die FDP will Kriegsflüchtlinge in der Schweiz nur noch mit Naturalien versorgen. Die CVP will ein Bargeldverbot und eine völkerrechtswidrige Arbeitspflicht einführen und die SVP ruft in Brandreden zum Kampf gegen Asylunterkünfte auf. Das ist gefährlicher Populismus.

Hören wir nicht auf diese Scharfmacher. Sie haben kein Rückgrat wie Marie Grimm, sondern die moralische Integrität einer Schwingtüre. Die Geschichte der Menschen, die in Italien, in Spanien und in Griechenland stranden, kann und darf uns nicht gleichgültig sein. Wenn die Europäische Union und die Schweiz zuschauen, wie Kriegs- und Gewaltflüchtlinge aus Syrien oder aus Libyen im Mittelmeer ertrinken, dann brechen sie den hippokratischen Eid der Menschlichkeit. Und sie verdrängen die Schulden, die milliardenfachen Schulden, die sie mit dem Kolonialismus, mit dem Schweizer Steuerhinterziehungsgeheimnis für Diktatoren, mit den Waffenexporten an Folterregimes und mit der Umweltzerstörung durch die globalen Rohstoffkonzerne auf sich geladen haben.

Eine Welt voller Verliererinnen ist keine lebenswerte Welt. Eine Welt voller Verlierer ist keine stabile Welt. Und eine Welt, in der viele NICHTS mehr zu verlieren haben, ist sogar eine sehr gefährliche Welt.

Wir Grünen gehen deshalb mit Rückgrat in die Wahlkampagne und lassen weder das Thema Asylpolitik noch Europa rechts liegen.

  • Wir wollen Akzeptanz schaffen, in dem wir mit unserer Kampagne „Schutz statt Hetze“ die Fakten aufzeigen. Es gibt keine Asylkrise in der Schweiz, es gibt eine Krise der weltweiten Gerechtigkeit.
  • Wir wollen die privaten Initiativen zur Aufnahme und Betreuung von Flüchtlingen stärken. Viele Grüne engagieren sich in Freiwilligenteams, im Kanton Bern, im Kanton Zug, im Kanton Genf. Dafür danken wir Euch.
  • Wir wollen die Integration und die Selbständigkeit der Flüchtlinge fördern und endlich das absurde Arbeitsverbot aufheben.

Doch wir wären nicht Grüne, wenn wir nicht weiterdenken.

  • Wir wollen und wir müssen vor allem die Fluchtursachen bekämpfen. Das heisst: Keine Waffenexporte in Länder mit Menschenrechtsverletzungen, keine unfairen Deals mit Rohstoffen und keine Diktatorengelder auf Schweizer Bankkonten mehr.
  • Wir wollen die Zusammenarbeit mit Europa stärken. Der Kanton Schaffhausen grenzt ja an Baden-Württemberg an, dem deutschen Bundeslang mit einem grünen Ministerpräsidenten. Der kleine Grenzverkehr funktioniert bestens, auch zwischen den Grünen, und darf durch die Abschottungspolitik der rechten Parteien nicht gefährdet werden. Wir wollen keine Mauern um die Schweiz, sondern faire Handelsbeziehungen und gute Nachbarschaft. Wenn sich die SVP mit Heidi, Geissenpeter und Willi heute an ihrer Delegiertenversammlung auf eine Alp zurückziehenwollen, dann weinen wir ihnen keine Tränen nach. Was wir aber niemals akzeptieren, ist, dass sie auch uns und alle anderen Menschen in der Schweiz in ihr Abschottungsgefängnis einsperren wollen. Wir Grünen sind die Partei der Freiheitsrechte. Deshalb setzen wir uns für gesellschaftliche Modernisierung ein. Und bekämpfen den Ausbau des Geheimdienstes und des Schnüffelstaates.
  • Last but not least wollen und müssen wir lokal und global unsere Lebensgrundlagen erhalten. Viele von uns haben ja in den letzten Tagen zum ersten Mal in ihren Leben eine AKW-freie Schweiz erlebt. Es soll FDP-Nationalräte geben, die heute noch nach der Stromlücke suchen. Es sind die gleichen, welche die Klimaerwärmung mit Atomstrom bekämpfen und gleichzeitig ohne mit der Wimper zu zucken eine zweite Gotthardröhre bauen wollen. Da bleibt vom grünen Lack nichtmehr viel übrig. 2011 waren alle grün – wir sind es immer noch.

Zieht eure Turnschuhe an und geht unter die Leute, in euren Kantone und Gemeinden. Wir müssen mit unserem Schlussspurt die Richtungswahl gewinnen. Wir wollen keine nationalkonservative, von Angst gesteuerte und rückwärtsgewandte Schweiz. Nein, wir wollen eine andere Schweiz, eine weltoffen, solidarische und zukunftsgerichtete Schweiz.

„Wir machen eine Politik, als gäbe es ein Morgen“, haben die Jungen Grünen auf eines ihrer Plakate geschrieben. Eine Politik der Hoffnung, eine Politik der Zukunft. Eine Politik mit Kopf, mit Herz und mit Rückgrat. Wir danken Euch allen für euer Engagement, Euren Mut und Eure Ausdauer. Die Delegiertenversammlung heute ist Marie Grimm aus Schaffhausen gewidmet. Avanti Verdi!

Präsidialrede (PDF)