Jetzt erst recht: Auf die Strasse für eine andere Schweiz

Liebe Grüne

Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren. Ihr habt gekämpft. In den Kantonen, im Bundeshaus, auf dem Land, in den Städten.

Zum ersten Mal in der Geschichte der Schweizer Grünen haben wir einen gemeinsamen nationalen Auftritt gestemmt. Von Genf bis Schaffhausen, von Sion bis St. Gallen waren wir im gleichen Kleid und mit den gleichen Botschaften unterwegs: Wir wollen die natürlichen Lebensgrundlagen erhalten, die individuellen Grundrechte schützen und globale Gerechtigkeit durchsetzen.

Wir haben in dieser Kampagne aufgezeigt, was die grüne Politik in den letzten Jahren bewegt hat und bewegen will. Und wir haben aufgezeigt, was das Rückschrittprogramm vom SVP und FDP für die Bevölkerung bedeutet: Mehr Autobahnen und weniger Bildung, aggressiver Steuerwettbewerb auf Kosten der sozialen Sicherheit, schmelzende Gletscher und strahlende Atomkraftwerke, Treten gegen unten und Buckeln gegen oben. Zum Beispiel im Kanton Zug, wo italienische Bauarbeiter obligatorische Deutschkurse besuchen müssen, amerikanische Rohstoffmanager aber nicht. Natürlich sind es die Grünen, die diese Heuchelei im Quadrat bekämpfen.

Auch den anderen rechtsbürgerlichen Plänen werden wir uns in den nächsten vier Jahren Paroli bieten. Wir sind bestens trainiert dafür.

Wir haben mit unserer vielbeachteten Onlinekampagne in den letzten Monaten das Internet erobert. Wir haben mitten im Wahlkampf mit Fair-Food unsere dritte nationale Volks-Initiative in dieser Legislatur gesammelt – und ein paar kantonale Initiativen und Referenden dazu. Keine andere Partei hat in der Geschichte der Schweizer Demokratie eine solche Parforce-Leistung erbracht. Und noch nie haben wir so viel Energie und Herzblut in eine grüne Wahlkampagne investiert. Und ja, das alles hat auch Spass gemacht.

Liebe Grüne: Wir haben uns ins Zeug gelegt – und wir haben verloren. Wir haben 1.3 Wähler­prozente verloren, wir haben vier Nationalratssitze verloren und wir haben mit Aline Trede, Anne Mahrer, Christian van Singer und Yvonne Gilli vier engagierte, hochkompetente und weit über die Parteigrenzen hinaus geschätzte Nationalrät/innen verloren. Das tut weh. Da gibt es nichts schönzureden und nichts zu übertünchen.

Wir werden deshalb nicht wie andere Parteien einfach sagen: „Schwamm darüber“. Wir haben viel investiert, weil wir gewinnen wollten und weil wir gewinnen müssen, um die Weichen anders zu stellen. Das ist auch weiterhin unser Ziel. Doch unser Aktionsfeld wird sich in den nächsten vier Jahren vermehrt auf die Strasse verlagern, zur Zivilgesellschaft und zu den Instrumenten der direkten Demokratie.

Nur mit viel Druck von unten werden wir in Bundesbern etwas bewegen können.

Liebe Grüne.

Wer kämpft kann verlieren. Und wer verliert, sollte wissen warum. Das ist ja auch im Fussball so.

Die Geschäftsleitung hat am Donnerstag eine erste Diskussion über die Wahlen geführt. Wir werden die Resultate an der nächsten Vorstandssitzung mit den kantonalen Präsidentinnen und Präsidenten vertiefen. Heute möchte ich mich auf ein paar wenige Punkte beschränken:

Die Wahlen 2015 standen im Zeichen grosser Verunsicherung. Die Annahme der Massenein­wanderungsinitiative, die Freigabe des Frankenkurses und die europäische Asylkrise haben die Stimmung geprägt. Die von der SVP geschürten Ängste konnten stark mobilisieren. Es war ein Sieg für eine Politik, die Probleme nur bewirtschaftet und nicht lösen will. Es war ein Sieg für eine Politik, welche die Grundwerte unserer Demokratie in Frage stellt: Die universellen Menschenrechte, der Respekt vor Meinungsvielfalt und der Grundsatz, dass die Stärke des Volkes sich am Wohl der Schwachen misst.

Die grosse Frage ist, warum es uns Grünen in dieser Situation nicht gelungen ist, uns als Kontrapunkt zur rechtsnationalistischen SVP mehr Gehör zu verschaffen. Sicher: Wir haben die Kampagne „Schutz statt Hetze“ lanciert. Wir haben das Asylrecht verteidigt. Wir haben aufgezeigt, dass mit den Flüchtlingen auch die Quittung für Schweizer Waffenexporte, für die Klimaerwärmung und für die Fluchtgelder auf Schweizer Bankkonten an unsere Türe klopft. Wir haben auch gezeigt, wo die Lösungen liegen. Bei der Stärkung der Menschenrechte, bei der Bändigung der Finanzmärkte und natürlich auch im Umweltschutz.

Warum sind wir mit diesen Lösungen nicht besser an die Frau, an den Mann und vor allem an die jungen Menschen herangekommen? Lag es an den ungleichen finanziellen Spiessen, also daran, dass wir mit einem Velo in einem Formel-1-Rennen mithalten mussten? Hätten wir aggressiver oder vielleicht pragmatischer sein müssen, hätten wir auf weniger und andere Themen setzen müssen – all diese Fragen wollen wir mit euch vertiefen.

Dabei wollen wir auch aus den Erfolgen lernen. Aus der unglaublichen Mobilisierung der Grünen Basel-Land zum Beispiel, die mit dem Team um Maya Graf einen riesigen Sprung nach vorne schafften. Oder aus der selbstbewussten antigrau-Kampagne in Basel-Stadt. Dank ihr werden wir im Nationalrat mit Sibel Arslan verstärkt. Weitere solche Erfolge sind möglich, denn die Wahlen sind noch gar nicht vorbei.

Morgen Sonntag geht es bei den Ständeratswahlen in Genf und Waadt um die Wurst und am 22. November kann Bastien Girod in Zürich die Sensation schaffen und erster grüner Ständerat des Kantons Zürich werden.

Wir brauchen diese grünen Stimmen im Ständerat, denn dieser wird in der neuen Legislatur ein wichtiges Korrektiv zum Nationalrat sein. Auch im Bundesrat gilt es einen weiteren Rechtsrutsch zu verhindern. Wir fordern die bürgerliche Mitte auf, eine eigene Kandidatur aufzustellen und werden der SVP keine Stimme geben.

Nach den Wahlen vom 18. Oktober sind wir nach wie vor die fünftstärkste Partei in diesem Land. Seit über 30 Jahre setzen wir uns für die Umwelt, für die Grundrechte und eine Wirtschaft im Dienste der Menschen ein. Unsere Vorschläge werden in der Regel zuerst belächelt, dann bekämpft und am Schluss von anderen Parteien übernommen. So geht es allen Pionieren, und so wird es uns auch in der nächsten Legislatur ergehen. Unser Auftragsbuch ist voll. Wir brauchen alle bisherigen Grünen und doppelt so viele Neuen, um die andere, die ökologische, die soziale, die offene Schweiz zu stärken. Und wir wollen weiter zusammenwachsen, um zusammen zu wachsen. Liebe Grüne: Die Bevölkerung, die Natur, die zukünftigen Generationen zählen auf euch!

Präsidialrede (PDF)