Mit Ausgleich, Offenheit, Pioniergeist zum Erfolg!

Liebe Grüne

Das ist nicht nur eine Präsidialrede. Das ist auch eine Bewerbungsrede: Gerne stelle ich mich heute erneut als Präsidentin der Grünen Schweiz zur Verfügung.

Als Adèle Thorens und ich die Partei 2012 übernommen haben, war sie von Flügelkämpfen, Enttäuschungen und Stillstand geprägt. Heute ist alles anders. Heute sind wir optimistisch und voller Tatendrang. Heute sind wir zu einem starken Team zusammengewachsen. Heute nehmen die Mitgliederzahlen und die Spenden jedes Jahr zu. Heute arbeiten wir eng mit sozialen Bewegungen, Umweltverbänden, Bürgerkomitees und der progressiven Wirtschaft zusammen. Heute gewinnen wir Wahlen: Allein im Frühling fünf zusätzliche Sitze im Kantonsparlament von Genf – die Grünen waren die erfolgreichste aller Parteien. Dann ein zweiter Sitz in der Stadtregierung von Zürich, ein neuer Sitz in der Stadtregierung von Uster, zusätzliche Parlaments- und Regierungssitze in der Zürcher Agglomeration. Und last but not least: Die Wahl von Christine Häsler zur Nachfolgerin von Bildungsdirektor Bernhard Pulver im Kanton Bern. Ein grosser Applaus für diese grossen Erfolge!

Mein Mann hat anfangs Jahr nicht ganz uneigennützig gemeint: Eigentlich sollte man ja aufhören, wenn es am Schönsten ist. Stimmt, war meine Antwort, und genau deshalb trete ich für zwei weitere Jahre an. Am Schönsten ist es nämlich dann, wenn wir die nationalen Wahlen gewinnen. Das ist mein Ziel, das ist meine Aufgabe, an der ihr mich und die neue Geschäftsleitung messen könnt.

Im Klartext: Wir wollen mindestens vier Sitze zulegen, um der Umwelt in Bundesbern
wieder eine starke Stimme zu geben. Ihr kennt ja das erste newton‘sche Naturgesetz. Es heisst: Je mehr Grüne im Parlament, desto grüner werden die anderen Parteien. Jede Stimme für uns färbt mit Faktor 4 auf die anderen ab. Nur ein grüner Wahlerfolg kann deshalb brutale Verschlechterungen im Umweltschutz an der Quelle stoppen. Der Angriff auf die Sicherheit von einer Million Menschen durch die Wiederinbetriebnahme des AKW Beznau 1 zum Beispiel. Oder die Gefährdung von wertvollen Landschaften und Ortsbildern mit der Durchlöcherung des Natur- und Heimatschutzes.

Das sage ich übrigens in jeder Erst-August-Rede: Die Tugenden und Traditionen der Schweiz sind bei den Grünen besser aufgehoben als bei vielen bürgerlichen Parteien. Wer die Heimat liebt, schützt die Gletscher vor dem Klimawandel, die Alpen vor dem Transitverkehr und unsere einzigartigen Landschaften vor dem Presslufthammer. Und was ich auch immer sage neben Lampions und Cervelat: Wer die Geschichte der Schweiz kennt, predigt nicht Abschottung, sondern Ausgleich, Offenheit und Pioniergeist. Das ist unsere DNA. Die der Grünen und die der Schweiz.

Die Grünen sind seit 35 Jahren die erste Adresse für Umweltpolitik in diesem Land. Wir sind aber keine reine Ökopartei. Wir können alles. Deshalb legen wir uns auch mit und für die Menschen ins Zeug, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Menschen, die mit immer höheren Mietzinsen kämpfen. Menschen, die von der Digitalisierung überrannt werden. Menschen, die durch die Schweizer Steuerdumping-Politik in ihren Heimatländern Sambia oder Peru keine Perspektive mehr haben. Aber auch: Frauen und Männer, die endlich Lohngleichheit und familienfreundliche Arbeitsbedingungen wollen. In Sachen Gleichstellung ist die Schweiz ein Entwicklungsland. Und in sozialen Fragen sind wir auf dem Weg dazu.

Heute werden wir ja über die offizielle Unterstützung für das Referendum gegen Versicherungsspione beschliessen. Für uns ist klar: Wer in Stasi-Manier ohne begründeten Verdacht Privaträume ausspähen und Balkone observieren will, verletzt die Grundwerte eines liberalen Staates. Und er schürt soziale Kälte. Und das nicht nur hier. Es ist gut möglich, dass wir neben dem Referendum gegen die Versicherungsspione auch noch eines gegen den Abbau der Ergänzungsleistungen sammeln müssen. Und eines gegen den Abbau der IV. Gegen die Steuervorlage 17. Oder gegen das neue Versicherungsvertragsgesetz. Die bürgerliche Mehrheit im nationalen Parlament hat jedes Augenmass verloren. Sie betreibt reine Klientel- und Interessenspolitik. Sie dreht und wendet die Gesetze so, dass ihre Freunde profitieren und die Bevölkerung die Zeche zahlt. Mit dem neuen Versicherungsvertragsgesetz zum Beispiel kann eine Krankenzusatzversicherung einseitig so abgeändert werden, dass ältere Menschen einfach rausfliegen. Sie haben jahrelang einbezahlt und werden rausgeschmissen, bevor es etwas kostet. Das ist unverschämte, schrankenlose Profitmaximierung. Sie ruiniert nicht nur Existenzen, sondern auch den Ruf der Versicherungsbranche.

Liebe Grüne. Es muss sich grundsätzlich etwas ändern in diesem Land. Wir können nicht jeden Tag ein neues Referendum lancieren. Wir müssen vor allem dort ansetzen, wo die Entscheidungen fallen: im Bundeshaus. Wir müssen die nächsten Wahlen gewinnen! Denn nur so haben wir Luft, um mit der Bevölkerung zusammen Verbesserungen durchzusetzen. Das ist unsere Spezialität: Uns Grüne wählt man nicht, um etwas abzuwehren. Uns Grüne wählt man, um die Schweiz mit neuen Impulsen und mit Pioniergeist voranzubringen.

In diesem Geist ist auch die Fair-Food-Initiative entstanden, die Ende September zur Abstimmung kommt. Ein Handelsrechtsexperte der Uni Bern hat mir kürzlich ganz begeistert gesagt, dass dies der Anfang einer neuen Handelspolitik werden könnte.

Eine Handelspolitik, welche die lokale Wirtschaft nicht an die globalen Konzerne verkauft. Eine Handelspolitik, die nach fairen Spielregeln läuft. Eine Handelspolitik, die Qualität und Nachhaltigkeit stärkt. Nicht Abschottung, nicht Sozial- und Umweltdumping, sondern der dritte Weg. Ich bin sicher, dass wir mit unseren Verbündeten im Sommer eine begeisternde Kampagne aufs Parkett legen werden. Johann Schneider-Ammann, der heute von seiner Freihandels-Propagandareise in die Mercosur-Staaten zurückreist, kann sich warm anziehen! On va rire!

Liebe Grüne, wir haben viel zu tun. Die Fair-Food-Initiative, die nationalen Referenden, eure kantonalen Projekte, die nationalen Wahlen 2019: Es ist eine intensive, eine vibrierende Zeit. Die Dynamik macht Freude. Denn die Menschen glauben wieder daran, dass es sich lohnt, für grüne Anliegen auf die Strasse zu gehen. Wir sind in den letzten sechs Jahren wieder zu einer Bewegung geworden. Zu einer Bürgerbewegung, die das Engagement im Alltag, das Engagement in Projekten mit der formellen Politik verbindet. Und genau auf diese Verbindung kommt es an. Es reicht nicht, wenn man beim Biobauer in der Nähe gesunde Lebensmittel kauft – erst wenn man dazu auch noch in der Politik die Grünen stärkt, wird aus einer individuellen Aktion die grosse Veränderung.

Ich danke allen, die mit mir, mit uns zusammen unterwegs sind auf diesem Weg. Wir sind ein Kollektiv. Ich danke allen Mitgliedern und UnterstützerInnen. Allen Verbündeten in Komitees, Organisationen und Verbänden. Den lokalen und kantonalen Sektionen der Grünen und der Jungen Grünen. Der jugendlichsten Bundeshausfraktion, die wir je hatten. Den Geschäftsleitungsmitgliedern, die nun sechs Jahre in den Parteiaufbau investiert haben. Dem Sekretariat, das mit Generalsekretärin Regula Tschanz an der Spitze zu neuen Höhenflügen aufgebrochen ist. Allen Delegierten, die mir in der Wahl heute das Vertrauen schenken. Aber auch jenen, die es vielleicht nicht tun werden. Die Freiheit des Denkens und Handelns wird bei den Grünen grossgeschrieben – wir sind keine Kopfnicker-, sondern eine emanzipierte Mitmachpartei.

Und genau diese Botschaft, liebe Grüne, wollen wir in den nächsten zwei Jahren noch
stärker hinaustragen. Im Mittelpunkt unserer Politik steht der Mensch mit seiner Würde und Freiheit. Die Freiheit, ohne Korsett aus gesellschaftlichen Zwängen und Vorurteilen leben zu können. Die Würde, in einer Gesellschaft zu leben, in der alle ihren Platz und ihre Rechte haben.

Wer sich für Offenheit, Vielfalt und Respekt einsetzt, ist bei uns am richtigen Ort. Wer Veränderungen positiv gestalten will, ist bei uns am richtigen Ort. Wer hartnäckig und unabhängig auch mal gegen den Strom schwimmt, ist bei uns am richtigen Ort. Wer konsequent und konstruktiv zugleich sein will, ist bei uns am richtigen Ort. Grün ist das, was wir daraus machen. Macht mit!

Präsidialrede (PDF)