Die Schweizer Demokratie ist etwas Besonderes. Unsere direktdemokratischen Instrumente, das Referendum und das Initiativrecht, sie gelten vielen Menschen in anderen Ländern als Vorbild. Zu Recht. Gerade das Initiativrecht ermöglicht es, auch Fragen auf die politische Agenda zu setzen, welche in der etablierten parlamentarischen Politik weit von einer Mehrheit entfernt sind. Das Paradebeispiel: die GSoA-Initiative zur Abschaffung der Armee. Oder in neuerer Zeit die Volksinitiative für die Einführung eines Grundeinkommens.

Gleichzeitig darf kritisch festgehalten werden: Die Schweizer Demokratie bleibt unvollkommen. Sie hatte in der Vergangenheit massive Mängel: Warum erhielten Frauen das Stimm- und Wahlrecht erst vor 50 Jahren, nach mehreren Anläufen? Und warum dauerte es danach nochmals Jahrzehnte, bis auch in den Kantonen zumindest die politische Gleichberechtigung durchgesetzt werden konnte? Wie kam es, dass bis 1977 einzelne Kantone willkürliche Ausschlussgründe vom Stimm- und Wahlrecht kannten – wie Verschwendung, Trunksucht, lasterhafter Lebenswandel, Misswirtschaft, Wirtshausverbot, fehlende bürgerliche Ehrenfähigkeit oder dauernde Unterstützungsbedürftigkeit? Warum wurden die Ausschlussgründe erst 1978 auf eidgenössischer Ebene vereinheitlicht?

Ein demokratischer Skandal

Auch heute noch ruht ein dunkler Schatten auf unserer Demokratie. Ein Viertel der hier lebenden Menschen, nämlich alle ohne Schweizer Pass, sind vom Stimm- und Wahlrecht auf eidgenössischer Ebene ausgeschlossen. Ein halbes Jahrhundert nach Einführung des Frauenstimmrechts kann in vielen Gemeinden nur weniger als die Hälfte der Einwohnerschaft in Bundesangelegenheiten mitbestimmen. Die andere Hälfte hat keinen Schweizer Pass, ist noch nicht volljährig oder unmündig mit Beistandschaft. Das trifft Gemeinden und Städte wie Kreuzlingen, Dietikon oder Schlieren. Aber auch Grossstädte wie Genf. Dort haben bei nationalen Urnengängen nur 86’000 von über 203’000 Einwohner*innen das Stimmrecht. Und bereits in einem Jahrzehnt könnte gar in einem ganzen Kanton, in Basel-Stadt, die Hälfte der Einwohner*innen von der politischen Partizipation ausgeschlossen sein. Ein eigentliches demokratisches Skandalon.

Wir wollen das Stimm- und Wahlrecht für Ausländer*innen einführen.
Balthasar Glättli, Präsident GRÜNE Schweiz

In umgekehrte Richtung zeigt die Schweiz sich übrigens offener: über 770‘000 Auslandschweizer*innen erhalten, sobald sie volljährig sind, hierzulande das Stimm- und Wahlrecht. Und dies auch dann, wenn sie noch nie in der Schweiz gelebt haben und dies auch nicht planen.

Stimmrecht für Ausländer*innen

Damit alle Menschen, die hier leben und arbeiten, auch als aktive Mitglieder der Gesellschaft, als Citoyens und Citoyennes anerkannt werden, bringen wir GRÜNE das Stimm- und Wahlrecht für Ausländer*innen wieder auf die Agenda des Parlaments. Das hat seit 20 Jahren niemand mehr gemacht.

Die Forderung unserer parlamentarischen Initiative, welche wir in der Märzsession einreichen werden, ist einfach: Ausländer*innen mit einer rechtmässigen Aufenthaltsdauer von fünf oder mehr Jahren erhalten auf Bundesebene das Stimmrecht und das aktive und passive Wahlrecht – also das Recht, das Parlament mitzuwählen und auch selbst ins Parlament oder gar in den Bundesrat gewählt zu werden. Wie viele neue Anläufe es braucht, bis das Ausländer*innenstimmrecht eine Mehrheit findet, wird die Zukunft zeigen. Aber den Versuch ist es wert: Nach den verschiedenen Niederlagen der SVP die Chance zu nutzen und beim Thema Gleichberechtigung der Migrant*innen aus der Verteidigungshaltung auszubrechen. Und demokratische Grundrechte einzufordern.

Zwischenerfolg für Stimmrechtsalter 16

Immerhin lehrt die Vergangenheit: In einem Jahrzehnt kann sich vieles ändern, wenn ein Thema hartnäckig verfolgt wird. So hatten noch zwei Drittel der Männer 1959 das Frauenstimmrecht abgelehnt – zwölf Jahre später war das Verhältnis umgekehrt. Auch aktuell gibt es Positives zur Ausdehnung des Stimm- und Wahlrechts zu berichten. Anfang Februar 2021 hat der Vorstoss der grünen Nationalrätin Sibel Arslan für das (aktive) Stimm- und Wahlrechtsalter 16 eine weitere Hürde genommen. Er wurde von der Staatspolitischen Kommission des Ständerats zur Annahme empfohlen, nachdem er in der Herbstsession im Nationalrat überraschend eine Mehrheit gefunden hatte.

Nicht nur mehr, sondern anders mitbestimmen

Die GRÜNEN setzen sich aber nicht nur dafür ein, dass mehr Leute mitbestimmen und wählen können. Sondern wir fordern auch, dass unsere Demokratie durch neue Formen der Mitbestimmung gestärkt wird. Konkret schlagen wir die Einsetzung eines Klimarats vor, der mittels Los gut verteilt aus der ganzen Bevölkerung zusammengesetzt werden soll. Sein Ziel: in der gemeinsamen Diskussion und unter Beratung von Wissenschaftler*innen neue Wege zu debattieren, wie die Schweiz die Klimaerhitzung bekämpfen kann.

Dieses Gremium soll ein Element stärken, das weder in der repräsentativen Demokratie (Delegation der Interessensvertretung an gewählte Parlamentarier*innen) noch in der direkten Demokratie (jeder vertritt seine Haltung an der Urne) stattfindet: die Deliberation. Die Diskussion. Das Reden und Ringen miteinander um schwierige Lösungen, bei denen alle sich bewegen können, müssen und dürfen.