Es freut mich, den 1. August heute Abend mit Ihnen in Einigen zu feiern und ich danke herzlich für die Einladung. Auf der anderen Seite des Thunersees, in Hünibach, bin ich aufgewachsen. Der Niesen, das Café Mokka, die Segelschule Hilterfingen, das Seminar Thun, das Kirchlein in Einigen sind im wahrsten Sinne des Wortes meine Heimat: Hier komme ich her und hierher komme ich gerne immer wieder zurück.

Heimat ist dort, wo das Herz ist, hat Polo Hofer mal gesagt. Auch er ist im Berner Oberland gross geworden und hat bis vor kurzem auf der anderen Seite des Sees, in Oberhofen, gelebt. Ich kann mich noch gut erinnern, als in der Sek Hünibach zum ersten Mal eine Schallplatte von «Rumpelstilz» die Runde machte. Sie schlug ein wie eine 1.-August-Rakete. Da singt einer in unserer Sprache über Cannabis-Legalisierung oder über das Heimweh von spanischen Gastarbeitern. Und er scheut sich nicht, mit markigen Sprüchen manchen Gottesdienst zu stören. Sein Lebensmotto war: «Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom.»

Auch ich halte es so und muss Sie deshalb warnen: Ich werde keine patriotische Rede halten. Nichts von Rütli und Heldengeschichten, nicht von Wilhelm Tell und Vaterland. Ich werde keine patriotische Rede halten, obwohl ich überzeugt bin davon, dass Heimatschutz eigentlich gut zu den Grünen passt. Wer die Heimat liebt, schützt die Gletscher vor dem Klimawandel, die Alpen vor dem Transitverkehr und unsere einzigartigen Landschaften vor der Zersiedelung. Wer die Heimat liebt, ist jeden Tag dankbar, dass wir hier in Frieden und Sicherheit zusammenleben können, und weiss, dass dies nicht selbstverständlich ist.

Ich frage mich oft, wie es wäre, wenn es anders herausgekommen wäre. Wenn die Panzersperren, die seit 1940 in Einigen und im ganzen Berner Oberland das Alpenreduit abschotten, im zweiten Weltkrieg wirklich gebraucht oder gar überrollt worden wären. Wenn General Dufour im Sonderbundkrieg 1847 seinen Soldaten nicht «Mässigung und Menschlichkeit» verordnet hätte, sondern «Härte und Unbarmherzigkeit». Würden sich die Katholiken und Protestanten in der Schweiz immer noch die Köpfe einschlagen, so wie die Religionsgemeinschaften im Nahen Osten?

Oder: Was wäre passiert, wenn die Berner Aristokratie nach dem Volksaufstand von Münsingen 1831 nicht freiwillig abgetreten wäre, sondern ihre Privilegien mit Gewalt verteidigt hätte? Wir wissen es nicht, zum Glück. Was wir aber wissen: Die Geschichte ist kein Naturereignis, das über die Menschen hereinbricht wie ein Gewitter, sondern sie ist von Menschen gemacht. Hinter jeder guten Tat, hinter jeder Errungenschaft, auf die wir stolz sind, stecken engagierte, weitsichtige, mutige Menschen. Auf diese Menschen kommt es auch heute an – also auf Sie.

Wenn wir uns gemeinsam für unsere Heimat einsetzen, für die Schweiz als Demokratie mit funktionierendem Rechtsstaat und ausgebauten Bürger­rechten, dann brauchen wir heute einen weiteren Horizont als früher. Denn die Schweiz ist mit der Welt verwoben wie nie zu vor. Das fängt schon bei den Lebensmitteln an: Die Hälfte der hier gebrauchten Lebens- und Futtermittel stammt aus dem Ausland – auf uns alleine gestellt würden wir nicht lange durchhalten, nicht einmal mit einer Kartoffeldiät. Doch die Abhängigkeit von den anderen Ländern ist noch viel grösser. 80 Prozent der hier gebrauchten Energie kommt aus dem Ausland, Erdöl, Gas, Uran und Kohlestrom. Dank dem Ja zur Energiestrategie 2050 werden wir in den nächsten Jahren immer mehr auf einheimische, erneuerbare Quellen wie Sonne, Wind, Holz und Wasser setzen. Und natürlich müssen wir auch in unseren Köpfen etwas bewegen: In 20 Jahren können wir einen Drittel der Energie einsparen und sogar mehr. Wenn wir nur wollen und wenn wir unseren innovativen Unternehmen eine Chance geben!

In anderen Bereichen ist das nicht so einfach. Die Schweiz ist arm an Roh­stoffen: Eisen, Kupfer, Baumwolle, Phosphor, Platin – nichts davon ist in der Schweiz vorhanden, und doch sind wir täglich darauf angewiesen. Mehr noch: Die Schweiz ist arm an Rohstoffen, doch sie beherbergt die wichtigsten globalen Rohstoffhandelsplätze. Ein Drittel des weltweit gehandelten Erdöls wird in Genf gekauft und verkauft. Zwei Drittel des internationalen Handels mit unedlen Metallen läuft über die Schweiz. Rund 70 Prozent des weltweiten Goldes wird in der Schweiz raffiniert. Zwei Drittel des international gehandelten Getreides, über die Hälfte des Kaffees, die Hälfte des Zuckers und ein Grossteil der Baumwolle werden von Unternehmen mit Sitz in der Schweiz gehandelt.

Die Schweiz ist zudem der grösste Offshore-Finanzplatz der Welt und war lange Zeit privilegierter Ort für Flucht- und Schwarzgelder von Diktatoren und Kriminellen aus aller Herren Länder. Dieses schmutzige Geschäft musste bekanntlich wegen internationalem Druck korrigiert werden. Wenn wir nicht aufpassen, kann uns das auch in anderen Bereichen blühen.

Wer wirtschaftlich so stark mit dem Ausland verwoben ist wie die Schweiz, ist umso mehr darauf angewiesen, dass faire Spielregeln gelten. Dass die Menschen in anderen Ländern genügend Kaufkraft haben, um unsere Produkte zu kaufen. Dass sie genügend zu essen haben, um mit uns zu teilen. Doch das ist leider immer weniger der Fall. Krisen und Konflikte erschüttern die Welt und immer mehr Menschen sehen in ihrer Heimat keine Perspektiven mehr. Sie suchen sich eine neue Heimat, zum Beispiel in der Schweiz. Man könnte es auch so sagen: Die Verlierer/innen des globalen Turbo-Wettbewerbs halten sich nicht mehr an das Drehbuch, das die Grossmächte und Konzerne für sie schrieben. Nein, sie machen sich auf den Weg in ein besseres Leben und wandern ihren Rohstoffen (bzw. den Profiten aus ihren Rohstoffen) hinterher. Oder sie fliehen vor den Waffen, die geschäftstüchtige Firmen – auch aus der Schweiz – in Umlauf bringen.

Die zunehmende Migration gefällt nicht allen hier. Doch was ist die Alternative? Die Alternative ist, dass wir endlich die Ursache für diese globale Heimatflucht beseitigen, Armut, Not, Krieg, Gewalt, Hoffnungslosigkeit. Die Schweiz kann viel, kann mehr dazu beitragen.

Ich erlaube mir deshalb, am 1. August, dem symbolischen Geburtstag der Schweiz, drei Wünsche für die Zukunft auszusprechen:

Erstens wünsche ich mir, dass wir Heimat nicht nur als Raum zwischen Niederhorn und Niesen verstehen, sondern die ganze Welt dazuzählen. Es gibt kein «Heimat-Reduit». Die Erde ist der einzig bekannte Planet, auf dem Leben existiert. Und das nur dank einer Schutzhülle, unserer Atmosphäre, die Tag für Tag mehr durchlöchert wird. Mehr noch: Die Weltgemeinschaft vernichtet in wenigen Jahrzehnten Rohstoffe, die über Millionen von Jahren herange­wachsen sind. Ist das wirklich die Welt, die wir unseren Kindern weitergeben wollen? Schutthalden statt Berge, Pfützen statt Gletscher, Altlasten statt Lebenschancen? Nein. Wir können es besser. Ich bin sicher, dass Sie als aktive Bürger/innen alle Ihren Beitrag leisten, der nächsten Generation eine lebenswerte Welt zu hinterlassen – sonst wären Sie heute Abend nicht hierhergekommen. Gehen wir weiter diesen Weg.

Zweitens wünsche ich mir, dass wir die Werte der Schweiz nicht nur am 1. August loben und preisen, sondern täglich leben. Zum Beispiel den Respekt vor Minderheiten und vor Meinungsvielfalt. Nur in einer Diktatur müssen alle das gleiche denken und die gleiche Partei wählen. Zu den Werten der Schweiz gehört auch die Fähigkeit zum Kompromiss. Ich unterstütze zum Beispiel die Rentenreform, die im September zur Abstimmung kommt. Ich bin nicht mit allem einverstanden, aber ich sehe, dass wir die Finanzierung der AHV und das Rentenniveau nur mit diesem Kompromiss sichern können. Wenn er scheitert, stehen wir vor einem Scherbenhaufen, der Druck auf Abbau wird steigen. Ich springe deshalb über meinen Schatten und hoffe, dass es eine Mehrheit der Stimmbürger/innen auch tun wird.

Drittens wünsche ich mir eine Auffrischung unserer Nationalhymne. Polo Hofer kann leider keine mehr schreiben. Doch es gibt bereits einen Entwurf für eine modernere Version. Noch besser fände ich allerdings ein Lied von Mani Matter. Ihr kennt es: «Dene wos guet geit, gings besser, gings dene besser, wos weniger guet geit». Das heisst im Zeitalter der überhitzten Globalisierung: Wir können in der Schweiz nur gut leben, wenn es hier und weltweit weniger Verlierer/innen gibt. Und keine Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben. Unsere Demokratie baut nicht nur auf Freiheit und Rechtsgleichheit, sondern auch auf sozialem Ausgleich auf.

Schütten wir also die Gräben wieder zu, die in den letzten Jahren hier und weltweit immer grösser wurden: Die Gräben zwischen arm und reich, die Gräben zwischen Stadt und Land, die Gräben zwischen den Generationen. Ich habe uns dafür extra eine Schaufel mitgebracht und freue mich nun auf gemeinsames Schaufeln bei Bratwurst und Bier! Danke!