Präsidialrede Regula Rytz – DV 29.10.2016
Präsidialrede Regula Rytz – Delegiertenversammlung vom 29. Oktober 2016 in Olten.
«Zuerst ignorieren sie dich, dann lachen sie über dich, dann bekämpfen sie dich, dann gewinnen wir.» So ungefähr hat Mahatma Gandhi die Phasen der indischen Unabhängigkeitsbewegung zusammengefasst. Auch wir Grünen kennen diese Mechanismen. Auch wir wurden im Laufe unserer Geschichte immer wieder ignoriert und belächelt. Als «nette Gitarrenlehrerin» haben die Blocher-Medien unsere frischgewählte grüne Regierungsrätin Elisabeth Ackermann in Basel über Wochen hinweg betitelt. Das ist struktureller Sexismus, so wie ihn viele Frauen in der Schweiz täglich erfahren müssen. Absolut inakzeptabel und ein Armutszeichen für dieses Land. Ich bin stolz darauf, dass die Grünen in Sachen Gleichstellung immer einen Schritt voraus waren und die Frauenrechte als Teil der Menschenrechte auch in Zukunft mit Zähnen und Klauen verteidigen werden.
Nun: Die Bevölkerung in Basel liess sich von den rechten Hasstiraden nicht beirren. Sie wählte nicht den Sexismus, nicht den Bildungsabbau, nicht die soziale Spaltung und nicht die Klientelpolitik der rechten «Schulterschluss-Parteien». Nein, sie wählte Elisabeth Ackermann am 23. Oktober im ersten Durchgang in den Regierungsrat und stärkte die Grünen und die SP mit zusätzlichen Kantonsratssitzen. Wir freuen uns, der neuen Regierungsrätin heute persönlich zu gratulieren!
Das Thema der Grünen im Basler Wahlkampf war die Offenheit. Offenheit für die Vielfalt und die Verschiedenheit der Menschen. Offenheit für Lösungen jenseits der Mainstream-Ideologie – man kann dem auch Offenheit für «Innovation» sagen.
Die Offenheit der Grünen steht in maximalem Kontrast zu einer neuen Form der geistigen Landesverteidigung, die sich in der Schweiz einnistet und die Bewohnerinnen und Bewohner in echte und unechte Eidgenossen sortiert. Nach der SVP hat dieser Virus nun auch die CVP-Spitze erreicht. Ihr Präsident, Gerhard Pfister, hat vor kurzem in einem Interview gefordert, dass wir uns wieder stärker auf die christliche Identität der Schweiz besinnen müssten. Der Islam als Religion hat in seinem christlichen Glaubensstaat keinen Platz. Und auch das Judentum gehört für Pfister höchstens «indirekt» dazu.
Wenn ein Präsident einer Bundesratspartei Muslime oder Juden als Menschen zweiter Klasse definiert, dann ist das schockierend und identitätszerstörend, denn zur Geschichte der Schweiz gehört die religiöse Toleranz. Zur Geschichte der Schweiz gehört die säkulare Trennung von Kirche und Staat. Zur Geschichte der Schweiz gehört die individuelle Verschiedenheit der Menschen kombiniert mit bedingungslosen und universellen Grundrechten: Das ist der Kern der modernen Demokratie.
Vielleicht sollte Herr Pfister wieder einmal die Bundesverfassung lesen. Artikel acht zum Beispiel, zur Rechtsgleichheit: «Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Niemand darf diskriminiert werden, namentlich nicht wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der sozialen Stellung, der Lebensform, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung.» Oder Artikel 15, zur Glaubens- und Gewissensfreiheit. «Jede Person hat das Recht, ihre Religion und ihre weltanschauliche Überzeugung frei zu wählen und allein oder in Gemeinschaft mit anderen zu bekennen.»
Klarer kann man es nicht sagen. Wer eine Identitätsdiskussion dazu benutzt, um diese universalistischen Werte von Freiheit und Gleichheit in Frage zu stellen, der bewegt sich auf glitschigem Terrain. Er reiht sich ein in eine Reihe von pseudo-religiösen und nationalistischen Dogmatikern, welche die Lehre vom «homogenen Volk», von der «wahren» Religion, von der «natürlichen» Familie und einer «authentischen» Nation erfinden. Dass diese Sortierungs- und Spaltpolitik gefährlich ist, hat uns die Geschichte immer wieder gezeigt. Sie ist die Technik der Rechtspopulisten, die im aktuellen US-Wahlkampf fremdenfeindliche und perverse Blüten treibt. Sie ist auch vollständig antiliberal und steckt die Menschen in ein Gefängnis von Zuschreibungen und Vorurteilen. Das, liebe Grüne, ist nicht unser Weg.
Eine Wertediskussion kann für uns Grüne nicht beim Kopftuch anfangen und bei der Burka aufhören. Sie muss heute ganz andere Fragen stellen. Die Frage nach Gerechtigkeit, sozialer Sicherheit und Demokratie im Zeitalter der Globalisierung. Die Frage nach dem Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen. Genau hier bringen wir Grünen die Lösungen auf den Tisch, mit der Grünen Wirtschaft, mit der Fair-Food-Initiative und mit der Initiative für den geordneten Ausstieg aus der Atomenergie. Bei letztere gibt es zum Glück auch erfreuliche Signale. 58 Prozent der CVP-Wähler/innen haben sich in der letzten Umfrage für den geordneten Ausstieg aus der Atomenergie bis 2029 ausgesprochen. Die CVP Genf stimmt der Initiative zu, der stadtbernische Energiedirektor und ehemalige CVP-Generalsekretär Reto Nause sagt ja und zahlreiche ehemalige CVP-Parlamentsmitglieder sagen ja, von Judith Stamm bis Jacques Neirynck. Doch die Parteispitze und wahrscheinlich auch ihre Delegierten heute stehen auf der anderen Seite und wollen den Atomausstieg so lange hinauszögern, bis die Betreiber selber den Stecker ziehen. Ich wage mir nicht vorzustellen, was bis dann passieren kann. Denn wir wissen: Man kann ein Atomkraftwerk nie zu früh abstellen, nur zu spät.
«Zuerst ignorieren sie dich, dann lachen sie über dich, dann bekämpfen sie dich, dann gewinnen wir.» Wenn wir die Gandhi-Regel ernst nehmen, dann kann die Initiative für den geordneten Ausstieg aus der Atomenergie gewonnen werden. Die Gegenkampagne wird immer schriller und bewegt sich ausserhalb von Fakten und Realität. Die nächsten vier Wochen bis zur Abstimmung werden deshalb kein Sonntagsspaziergang, sondern knochenharte Arbeit mit der Aussicht auf Erfolg.
Wir brauchen euch alle, um die Bevölkerung zu informieren und die abstrusen Verdrehungen der Atomlobby zu kontern. Die Initiative für den Ausstieg aus der Atomenergie ist kein Gegenentwurf zur Energiestrategie, sondern eine zentrale Ergänzung dazu. Sie stellt sicher, dass die bestehenden fünf AKW in der Schweiz geordnet vom Netz gehen und nicht unbefristet weiterlaufen, bis der Blinddarm platzt. Ein Atomausstieg ohne Ausstiegsplan ist kein Atomausstieg. Sondern ein Blindflug, der die Sicherheit der Bevölkerung gefährdet und ein finanzielles Grounding wie bei der Swissair riskiert. Dazu werden wir nachher den unabhängigen Finanzexperten Kaspar Müller hören.
Anstatt immer mehr Geld in gefährlich lange Laufzeiten zu stecken, wollen wir Grünen in die Zukunft investieren. Über 50 000 Projekte für erneuerbare Energie warten darauf, den Atomstrom zu ersetzen. Ein Ja zur Initiative schafft Planungssicherheit und stärkt die lokale Wirtschaft und die Wasserkraft. Kein Land hat bessere Voraussetzungen für die Energiewende als die Schweiz. Machen wir jetzt endlich vorwärts.
Die Basler/innen haben uns letzten Sonntag gezeigt, wie harter Gegenwind zu Aufwind wird. Der Wahlsieg in Basel ist ein wichtiges Signal für uns Grüne. Denn er bestätigt den positiven Trend. Die Grünen haben in den kommunalen Wahlen 2016 überall zugelegt. Neue Exekutiv- oder Parlamentssitze gab es in St. Gallen, Wil, Langenthal, Biel oder Emmen. Gar 24 Prozent mehr Mandate konnten die Grünen in den Gemeinden des Kantons Waadt verbuchen. Auch bei den kantonalen Wahlen blieb Grün stabil. Nur in Schaffhausen hat die Abspaltung der Grünliberalen von den Ökoliberalen das Bild getrübt. In Aargau dagegen konnten wir trotz dem Rücktritt der populären Regierungsrätin Susanne Hochuli unsere zehn Kantonsratssitze halten.
Nicht nur bei Wahlen, auch bei der Bewegungs- und Bündnispolitik sind wir mit Schwung unterwegs. Letzte Woche haben die Jungen Grünen ihre Initiative für gemeinschaftliches Wohnen ohne Zersiedelung eingereicht. Im Kanton Bern konnten die Grünen mit einem Referendum und einer Initiative den Abbau bei den Prämienverbilligungen stoppen. Und überall kämpfen wir gegen eine verheerende Finanz- und Steuerpolitik, die bei Bildung, sozialer Sicherheit, Gesundheit und Entwicklungshilfe spart und gleichzeitig den Strassenbau und das Militär vergoldet. Ein grosses Thema wird in den nächsten Wochen auch der Widerstand gegen das Dienstleistungs-Handelsabkommen TISA sein, das Johann Schneider-Ammann im Dezember unterzeichnen will.
In allen internationalen Fragen arbeiten wir eng mit den Grünen aus anderen Ländern zusammen. Ich freue mich sehr, dass heute die Koordinatorin der Global Greens, Keli Yen, unser Gast ist. Die Grünen kämpfen auf allen Kontinenten für Klimaschutz, nachhaltige Landwirtschaft, Menschenrechte und fairen Handel. «First they ignore you, then they laugh at you, then they fight you, then we win». Ich freue mich auf viele erfolgreiche Kampagnen mit euch!