Grüner aus der Krise!

(Es gilt das geschriebene und das gesprochene Wort)

Es gibt in der Geschichte, es gibt in der Politik Momente der Entscheidung. Momente, die Bestehendes in Frage stellen. Momente, in denen wir zurückgeworfen werden auf uns selbst. Momente, die das übliche «Weiter so» in Frage stellen. Momente, in denen wir gemeinsam neue Wege einschlagen können.

Liebe GRÜNE
Cher Vertes, Cher Verts
Cari Verdi

Wir erlebten alle eine solche Zeit in den letzten Wochen. Ich bin froh, können wir uns hier in Brugg erstmals wiedersehen, wenn auch mit mehr Distanz und ohne die üblichen Umarmungen.

Auch die politischen Auseinandersetzungen haben wieder Fahrt aufgenommen. Deshalb rufe ich euch alle als Erstes auf: Nehmt die kommenden Abstimmungen ernst. Setzt euch ein. In den gegenwärtigen Zeiten kann man sich nicht auf die Prognosen von vor einem halben Jahr verlassen, es kann sich viel ändern: Zum Guten wie zum Schlechten! 

Darum müssen wir uns einsetzen: Für ein Nein zur Kündigungsinitiative und zur Abschaffung des Lohnschutzes. Für ein Nein zum Abschussgesetz. Und für ein Nein zum Reichenbonus. Und lasst uns in aller Deutlichkeit heute Nachmittag auch Nein sagen zu Milliarden für überflüssige Luxus-Kampfjets und Ja zum Vaterschaftsurlaub. 

Ich habe viel Verständnis dafür, dass man die herausfordernde Zeit hinter sich lassen möchte. Es soll wieder so sein, wie es war. Allerdings machen mir diese Rufe manchmal auch Angst. Und ich sorge mich, dass wir zu schnell zu unvorsichtig werden.

So oder so: Die Folgen des Lockdowns werden noch lange spürbar sein. Die Öffnung allein – das ist nicht die Lösung. Noch immer stehen ganze Branchen am Rande des Abgrunds. Für die Wenig-Verdienenden sind 80 Prozent Kurzarbeitsentschädigung auf ihrem Minimallohn schlicht zu wenig. Und die Frage, wie wir finanzpolitisch mit den wichtigen und nötigen, ausserordentlichen Milliardenausgaben umgehen, wird den politischen Spielraum in dieser Legislatur massiv prägen.

Wenn sich die Wunschträume jener durchsetzen, welche COVID-19 zum Startschuss für eine verschärfte Phase der Austerität machen wollen, für eine Politik der klammen Kassen, dann heisst dies: Die Weichen werden definitiv in die falsche Richtung gestellt.

Wir GRÜNE meinen: Wir müssen die Krise nutzen, nutzen für eine ökosoziale Transformation. Wir GRÜNE kämpfen dafür, dass wir grüner aus der Krise kommen, als wir in sie hineingegangen sind. Damit das gelingt, müssen wir aber als Gesellschaft in die Zukunft investieren. Genau dies wollen wir mit unserem Green New Deal. 

Die richtigen Lehren ziehen aus den letzten Monaten heisst: Aus den verpassten Chancen für einen grünen Umbau in den letzten Jahren lernen. Die Frage ist einfach. Wollen wir das Geld einmal oder zweimal ausgeben? Wenn wir in den Wiederaufbau der alten, grauen Wirtschaft investieren, werden wir noch ein zweites Mal investieren müssen: in den nötigen Umbau, in die Transformation hin zu einem grünen, widerstandsfähigeren, solidarischen Wirtschaftssystem. Investieren wir doch klüger von Beginn weg so, dass die Wirtschaft auf einem grüneren, solideren, zukunftsfähigeren Fundament steht! 

Jetzt ist ein entscheidender Moment. Und wir müssen ihn nutzen. Genau das wollen wir – mit unserem Green New Deal. 

Wir hatten Anfang August unseren Klima-Positiv-Plan vorgestellt. Die ersten Reaktionen waren zu erwarten. Von bürgerlicher Seite wurden unsere Forderungen als unrealistisch abgetan: Zu schnell. Zu viel. Zu teuer.

«Horrendes Tempo der GRÜNEN», titelte der Tages-Anzeiger. Und schrieb: «Wissenschaftlich betrachtet haben die Grünen die Argumente, im Klimaschutz das Tempo zu erhöhen, auf ihrer Seite. Die Realität sieht jedoch bisweilen anders aus.»

Ja allerdings tut sie das. Und genau deshalb müssen wir mehr Druck machen. Und zwar nur schon dafür, dass die bereits beschlossenen Massnahmen griffig umgesetzt und nicht verwässert werden!

Ein konkretes Beispiel ist der CO2-Absenkpfad für die Autos: Wenn die Importeure weiterhin für Stadtpanzer werben, statt für leichte, kleine und verbrauchsarme Autos und darum Bussen für die Missachtung des Absenkpfads erhalten, dann ist die Antwort darauf nicht – wie von rechts gefordert – diese Bussen zu erlassen. Sondern, wenn schon, sie zu verschärfen. Denn ein Absenkpfad, der nicht durchgesetzt wird, ist kein Absenkpfad.

In dieser Woche erhielten wir nun aber nicht nur Kritik von rechts, sondern von ungewohnter Seite. Die Jungen Grünen, aber auch die Klimastreikenden warfen uns vor, zu wenig ambitioniert zu sein, unser Plan zu wenig schnell.

Diese Auseinandersetzung ist wichtig, und wir sollten sie ernst nehmen. Für mich ist klar: Wir GRÜNE werden immer einstehen für alle Schritte, die uns dem Ziel näherbringen, für alle Schritte, die zu mehr Klimagerechtigkeit führen, für alle Schritte auf dem Weg zu einer nachhaltig klimapositiven Schweiz.

Genau darum ist unser Plan auch nicht die «Zehn Gebote», sondern ein Arbeitspapier, zu dessen Verbesserung wir alle einladen, denen eine engagierte Klimapolitik am Herzen liegt.

Aber ich möchte auch mahnen: Debattieren wir nicht nur – engagiert und hitzig – darüber, wie rasch Netto-Null theoretisch erreicht werden soll, sondern kämpfen wir vor allem ebenso engagiert miteinander für jeden einzelnen konkreten Schritt dorthin. Denn am Schluss macht man Klimaschutz nicht mit dem Streit um eine Jahreszahl, sondern mit dem gemeinsamen Einsatz für ganz konkrete Massnahmen. Jede Tonne fossiles CO2, die nicht in die Luft gepustet wird, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Und jede Tonne fossiles CO2, die verbrannt wird, ein Schritt in die falsche.

Eines aber nehme ich gerne mit von dieser Kritik. Und davon bin ich auch selbst überzeugt: So sehr Politik die Kunst des Möglichen ist, sie muss auch die Kunst des Möglich-Machens sein. Für uns GRÜNE heisst Politik auch: Wir wollen das Undenkbare denkbar, und das Denkbare möglich machen.

Und darum müssen wir über mehr reden, als nur über technische Lösungen. Wir müssen auch darüber reden, welche Gesellschaft wir wollen. Was sind unsere Ziele? Was bedeutet Wohlstand wirklich? Wie überwinden wir den schädlichen Leerlauf unserer Wegwerfgesellschaft? Und wie schaffen wir zusammen demokratisch eine Gesellschaft, in der Solidarität statt Konkurrenz im Zentrum steht, eine Gesellschaft, die sich Zufriedenheit zum Massstab nimmt, statt einen Überfluss von materiellem Besitz: «Besser statt mehr».

Es gibt in der Geschichte, es gibt in der Politik Momente der Entscheidung. Wir stehen an einer solchen Weiche. Wir GRÜNE wollen voraus in eine grüne Zukunft. Die bürgerlichen Parteien dagegen, sie glauben weiterhin ans «Weiter so». Weiter mit der Ausbeutung von Mensch und Natur. Weiter mit der Verdrängung dessen, was die Wissenschaft in den letzten Jahren weiter erforscht hat. Weiterhin verdrängen, wie dringlich die Transformation ist, die Klimawende, der Ausstieg aus Öl, aus Gas und Kohle.

Wir brauchen keine blinde Wissenschaftsgläubigkeit. Was wir allerdings brauchen, ist die Bereitschaft, uns mit den Erkenntnissen des IPCC (Zwischenstaatlicher Ausschuss für Klimaänderungen), der Wissenschaft auseinanderzusetzen. Und die Bereitschaft, das eigene Glaubensgebäude, die eigene Ideologie zu hinterfragen. Die Ideologie, dass mehr Konsum relevant für unsere Zufriedenheit sei. Die Ideologie, dass unbegrenztes Wirtschaftswachstum möglich, ja gar wünschbar sei. 

Denn es gibt Grenzen. Es gibt Grenzen des Wachstums. Und die gehen nicht weg, wenn wir die Augen zumachen. Wie der amerikanische Science-Fiction Autor Philip K. Dick einst gesagt haben soll: «Realität ist das, was nicht weggeht, auch wenn man nicht daran glaubt.»

Es gibt sie, diese Realität der drängenden Klimakrise. Ob man nun daran glaubt oder nicht. Genau wie es die Realität der Corona-Krise gibt. Und die hat gezeigt: In Notlagen können enorme individuelle und gemeinschaftliche Ressourcen mobilisiert werden. Genau so engagiert müssen wir auch für die Klimakrise ganz konkrete Lösungen umsetzen – Schritt für Schritt – um eine Katastrophe zu verhindern. Machen wir uns auf den Weg, mit einem ökologisch-sozialen Green New Deal.

Denn: Wenn alles so bleibt, wie es ist, bleibt bald nichts mehr, wie es ist.

Präsidialrede (PDF)