Doppelte Krise von Klima und Biodiversität angehen

Es gilt das gesprochene und das geschriebene Wort.

Liebe GRÜNE
Chères Vertes et chers Verts
Cari Verdi

An unserer letzten DV waren wir im Kanton Fribourg. Wisst ihr, was danach geschehen ist: Die GRÜNEN Fribourg haben ihr eigenes Rekordergebnis von den Nationalratswahlen 2019 wiederholt, und ihre Sitze im Kantonsrat mehr als verdoppelt, und Sylvie Bonvin-Sansonnens, die uns damals an der DV begrüsst hat, ist auf dem besten Weg, für die GRÜNEN in die Freiburger Kantonsregierung einzuziehen, zusammen mit einer starken Vertretung der SP und der CSP, stark als 4er Team. Gratulation, GRÜNE Fribourg, félicitations aux Vertes et Verts de Fribourg, et allez, Sylvie, allez, ensemble!

An dieser DV sind wir nun in Bern, und auch in Bern sind Wahlen, Ende März 2022. Ich hoffe, dass wir die DV auch hier als positives Vorzeichen sehen dürfen: Hopp, GRÜNE Bern, allez, les Vertes et Verts de Berne!

Klar ist: Es braucht mehr GRÜN, überall in der Schweiz. Es braucht GRÜN gegen die doppelte Krise von Klima und Biodiversität.

Ich erinnere mich, als ich noch ein Kind war. Lange Autofahrten kamen bei uns seltener vor, meist dann, wenn es in die Ferien ging, und das war immer etwas Besonderes. Ich sehe mich mit meinem Bruder und meinen Eltern im voll beladenen Kleinwagen sitzen, unterwegs in die Schweizer Berge. Und dann, nach der Ankunft, das Bild: Mein Vater putzt die Windschutzscheibe mit einem Lappen – denn sie ist voller toter Insekten.

Erinnert ihr euch auch, liebe GRÜNE, chères Vertes, chers Verts, cari Verdi?

Wenn ich heute – selten genug – ein Mobility Auto miete und damit zwei, drei längere Fahrten mache um beispielsweise jemandem beim Zügeln zu helfen, da passiert mir das nie mehr. Ich muss den Lappen nicht mehr hervorholen. Denn da sind praktisch keine Insekten an meiner Windschutzscheibe. 

Das ist kein Zufall. Ein Bericht des Forums Biodiversität der Schweizer Akademie für Naturwissenschaften zeigt auf, dass von allen in der Schweiz beheimateten Insektenarten 43 Prozent vom Aussterben bedroht sind. Ähnlich besorgniserregende Zahlen kennen wir aus Deutschland: Dort ist die Biomasse der Insekten auf ein Viertel zurückgegangen.

Lassen wir das einmal sinken: In nur zwanzig Jahren. Drei Viertel der Insekten. Weg.

Eine zweite Erinnerung. Sie kam mir im Frühling hoch, als ich mit meiner Tochter draussen spielte. Zwar kennt sie wie viele Kinder das Kinderlied «Schmetterling, du kleines Ding, such dir eine Tänzerin…» – aber wie besonders ist es doch jedes Mal, wenn wirklich nicht nur ein einzelner Schmetterling vorbeigaukelt, sondern gleich ein paar gemeinsam durch die Lüfte tanzen. «Schau, Papa, da!» In meiner eigenen Kindheitserinnerung aber, da gehören die Schmetterlinge zu Frühling und Sommer, nicht als besonderes Ereignis, sondern als bunte und treue Begleiter.

Sind diese Erinnerungen trügerisch? Romantisieren wir eine Vergangenheit, die es so nie gab?

Nein. Das Artensterben ist genauso real wie der Klimawandel. Die Schmetterlinge verschwinden tatsächlich: In der Schweiz ist rund die Hälfte der tagaktiven Schmetterlinge bedroht oder potentiell gefährdet.

Die Schmetterlinge liegen damit im Schweizer Durchschnitt: Die Hälfte aller Tierarten und ein Drittel der Pflanzenarten sind bedroht. Die biologische Vielfalt ist akut gefährdet! Nur scheint das in den Köpfen der Menschen noch nicht angekommen zu sein.

Als wir GRÜNE am 12. Januar unseren Klimaplan in einer Medienkonferenz vorstellten, da habe ich ein Bild gezeigt, mit einem kleinen Dörfchen an einem Strand, die Leute sagen zueinander «wasch dir einfach gut die Hände, und alles kommt gut.»

Doch auf den Strand rollen Wellen zu, zuerst eine grosse, COVID-19, dann eine grössere, die Rezession, dann eine noch grössere, dahinter verborgen, die Klimakrise, und schliesslich wird alles überschlagen von der Riesenwelle des Biodiversitäts-Kollapses. Ein beängstigendes Bild. Uns GRÜNEN geht es nicht darum, Angst zu verbreiten. Aber wir wollen der Bevölkerung die Augen öffnen und aufzeigen, wie die Welt aussehen kann, wenn wir endlich handeln.

Biodiversitätskrise bedeutet drei Dinge:

  • Die Artenvielfalt der Tiere, der Pflanzen, der Pilze, der Bakterien sinkt dramatisch.
  • Die Vielfalt und Vernetzung ihrer Lebensräume ebenfalls.
  • Die genetische Vielfalt innerhalb der Arten (also gewissermassen die Anzahl Unterarten) reduziert sich ebenfalls.

Handeln wir jetzt, bevor es zu spät ist. Landschaften, Lebensräume, Artenvielfalt: Sie sind von unschätzbarem Wert, denn sie sind nicht nur Voraussetzung für unsere Lebensqualität, sie sind unsere Lebensgrundlage! Und natürlich – auch finanziell, auch wirtschaftlich gesehen, geht es ums Eingemachte. Ein Faktenblatt des Bundesamts für Umweltschutz und der Schweizerischen Akademie für Naturwissenschaften[1] schätzt den globalen Wert der Ökosystem-Leistungen auf jährlich bis zu 54 Billionen Dollar.

Wollen wir alle Bienen durch Menschen ersetzen, welche die Pflanzen bestäuben, oder durch künstliche Drohnen? Unbezahlbar. Wollen wir alle Insekten ersetzen, die in der Nahrungsmittelkette Nahrungsgrundlage sind für grössere Tiere? Unmöglich. Aber der wahre Wert der biologischen Vielfalt lässt sich mit Geld allein nicht aufwiegen.

Klimakrise und Artensterben hängen eng zusammen. Die Klimaerhitzung beschleunigt das Artensterben und umgekehrt heizt der Verlust der Biodiversität das Klimafieber weiter an. Umso wichtiger ist es, jetzt zukunftsgerichtete Politik zu machen.

Das ging wohl diese zwei letzten Wochen an der Klimakonferenz in Glasgow unter.

Der damalige Präsident von Frankreich, Jacques Chirac, hat 2002 den berühmten Satz geäussert: «Notre maison brûle et nous regardons ailleurs.» Sinngemäss: «Unser Haus brennt und wir schauen weg.» Viel mehr als diesen Satz hat Chirac natürlich nicht zum Klimaschutz beigesteuert. Leere Worte – wie so oft. Wie auch in Glasgow, an der Klimakonferenz der letzten Wochen, wo unser Bundesrat vorgab, die Schweiz übernehme eine Vorreiterrolle im Klimaschutz. Dieses Greenwashing ist beschämend. Die Vorschläge des Bundesrats gegen die Doppelkrise von Klima und Biodiversität sind mehr als dürftig, sie werden der Lage bei Weitem nicht gerecht. Bundespräsident Parmelin redete in Glasgow den anderen Staaten ins Gewissen, es brauche ambitionierte Zwischenziele. Und gleichzeitig fehlen in der Klimastrategie des Bundesrats verbindliche Zwischenziele ebenso wie die dafür nötigen, konkreten Massnahmen. Wir brauchen einen anderen Bundesrat – zum Wohle von Klima, Biodiversität, zum Wohle unseres Planeten insgesamt!

Wir GRÜNE gehen voran. Denn es ist klar: Wenn die Mächtigen an der Weltklimakonferenz kaum etwas zustande bringen als leere Worte, darf das nicht länger ohne Folgen bleiben. Wenn unser Bundesrat die Augen weiterhin vor der Dringlichkeit der Lage verschliesst, müssen wir noch mehr Druck machen! Und dazu sind wir bereit! Das werden unsere Gespräche heute Nachmittag zeigen, wo wir darüber diskutieren, wie wir die beiden grossen Krisen, die Klimakrise und die Biodiversitätskrise, gemeinsam lösen können. 

Die gute Nachricht ist: Wir sind nicht ohnmächtig. Anpacken hilft, auch im Kleinen. Jeder Baum ist ein Schritt nach vorn, jede Hecke, jede Magerwiese, jede entsiegelte Fläche, jede zusätzliche Bienenpopulation ist ganz konkret mehr biologische Vielfalt.

Die Stadt von morgen ist eine Stadt,
die Grünräume nicht auf sterile Rasenflächen beschränkt, sondern Naturräume schafft und vernetzt.

Die Stadt von morgen ist eine Stadt mit mehr Bäumen statt Parkplätzen, jeder Baum eine natürliche Klimaanlage gegen die Klimaerhitzung.

Die Stadt von morgen ist eine Stadt mit Magerwiesen,
mit begrünten Dächern und Fassaden,
mit versteckten Naturkorridoren
und schönen Parks an dieser Ecke, und dort um die Ecke, und dort auch.

Die Stadt von morgen ist eine Stadt, die mit dem umgebenden Land in Verbindung steht.

Die weiss, woher ihre Agrarprodukte stammen und die mit ihrem Konsum eine verantwortungsvolle Landwirtschaft und somit den Schutz der Biodiversität auf dem Land stützt.

Kurz: Eine Stadt, die zum Verweilen einlädt, nicht zum Eilen.

Eine verantwortungsvolle, eine solidarische Stadt.
Eine Willkommensstadt – für Mensch, und Natur.

Wenn wir die Biodiversität, die biologische Vielfalt in unserem Land stärken, so kommt dies allen Menschen zugute. Grüner leben, das ist nicht einfach ein Lebensstil für Menschen mit mehr Geld. Eine gesunde Umwelt ist kein Privileg – sie ist ein Menschenrecht!

Umweltschutz ist daher immer auch eine Frage der Gerechtigkeit: Wir GRÜNE wollen die Klimakrise und die Krise der Biodiversität global und solidarisch bekämpfen!

Die Investitionen, die es braucht für den Wandel hin zu einer ökologischen Zukunft sind riesig. Aber sie verblassen hinter dem, was uns erwartet, wenn wir jetzt nicht umsteuern. Darum sind es eben nicht Ausgaben, sondern Investitionen – und die müssen wir als Gemeinwesen gemeinsam schultern. Und als reiches Land auch global einen grösseren Beitrag leisten als bisher, weil wir breitere Schultern haben.

Präsidialrede als PDF

[1] i https://www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/17883.pdf