Gleichzeitig wie das Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos fand im Jahr 2001 zum ersten Mal ein Weltsozialforum in Porto Alegre in Brasilien statt. Die Grünen standen vor der Wahl, am «Public Eye on Davos» oder in Porto Alegre teilzunehmen*, um an glaubwürdigen Alternativen zur wirtschaftlichen Globalisierung mitzubauen. Diese taktische Wahl hat natürlich nur einen symbolischen Wert, denn Porto Alegre ist nicht nur ein „Anti-Davos“, und Davos ist nicht allein für den Kapitalismus und den Neoliberalismus verantwortlich. Die Grünen können sich ebenso gut in Davos wie in Brasilien oder anderswo auf der Welt gegen diesen menschenverachtenden Kapitalismus engagieren.

Die sichtbaren Auswirkungen der Globalisierung
Auf der ganzen Welt kann man die Auswüchse einer globalisierten Wirtschaft beobachten. Als Folge von Fusionen und Standortwechseln findet man überall die gleichen Firmen. Die Handelsbeziehungen profitieren auf der einen Seite von globalisierten Kommunikationssystemen, auf der andern Seite verursachen sie eine starke Zunahme internationaler Transporte mit all ihren schädigenden Auswirkungen. Alle Aspekte des Lebens sind zunehmend der Vermarktung unterworfen. Das zeigt sich etwa im Bestreben von grossen Bio-Labors und pharmazeutischen Multis wie Novartis, für das genetische Erbe Patente zu erwerben. Vor ihrer Jagd auf die genetischen Ressourcen sind weder die indigenen Völker des Amazonas noch Europa sicher.

Zunehmend vermarktet werden auch der Gesundheits- und Energiesektor. Sogar das Wasser ist zum Teil schon privatisiert oder die Privatisierung ist geplant, ähnliches könnte im Bildungsbereich geschehen. Die Sozialsysteme stehen unter Druck, individualisiert zu werden (jedeR muss für sich selber sorgen), wie es in Chile mit der Altersvorsorge der Fall ist. Ein Modell, von dem sich in der Schweiz beispielsweise die SVP inspirieren lässt.

Ein weiteres Kennzeichen der wirtschaftlichen Globalisierung ist die Abhängigkeit, in der die multinationalen Konzerne Menschen und Völker zwängen. Eines der eindrücklichsten Beispiele dafür ist die amerikanische Firma Monsanto, die steriles genetisch manipuliertes Saatgut produziert, das nur mit Hilfe von Pestiziden wachsen kann, die wiederum ausschliesslich Monsanto herstellt.

Längst bekannt ist auch, dass der neoliberale Kapitalismus die Gewinne weniger über die Produktion als über Transaktionen und Finanzspekulationen erwirtschaftet.

Die Auswirkungen der wirtschaftlichen Globalisierung sind überall die selben, auch wenn sie in den Südländern viel dramatischere Ausmasse annehmen als in den Industrieländern. Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich immer mehr, sowohl im Inland als auch zwischen Nord und Süd. Der soziale Ausschluss findet auch bei uns statt. Die Mittelschichten geraten immer mehr unter Druck und drohen zu verschwinden. Der Kontrast zwischen Nord und Süd springt zwar weniger ins Auge als früher, weil es auch in den Südländern Reichtum gibt. Davon profitiert aber nur eine kleine Klasse: Kader von multinationalen Firmen, Finanzjongleure, korrupte Regierungen, Oligarchen und das Mafiamilieu, während die Mehrheit der Menschen in der Misere versinkt. Gemäss dem Entwicklungsbericht der UNO vom Jahr 2000 verfügen 12% der Weltbevölkerung über 86% des Reichtums. Im Jahr 2004 wird nach Schätzungen eine Minderheit von 10% der Weltbevölkerung über 88% des Reichtums verfügen. In Brasilien spricht man von einer „sozialen Apartheid“. Das bedeutet, dass die materielle Armut Hand in Hand geht mit dem Verlust der sozialen Anerkennung und dem Bewusstsein der eigenen Würde.

Protest und Volkswiderstand
In Porto Alegre, aber auch vorher schon in Genf, Seattle, Nizza und Prag hat sich ein «globales» Bewusstsein und eine starke Widerstandsbewegung gegen die katastrophalen Auswirkungen der wirtschaftlichen Liberalisierung manifestiert. Auffallend ist dabei die Kohärenz, mit der die Probleme analysiert und Alternativen vorgeschlagen werden. Ein Beweis dafür ist beispielsweise die selbstverständliche Integration ökologischer Anliegen in die neuen Entwicklungsperspektiven. Während von unseren sogenannten „entwickelten“ Ländern neue Technologien wie intensive Landwirtschaft, Genomanalyse, Gentechnologie und grosse Stauwerke oft als Lösung für die Entwicklung der Probleme in den Südländern angepriesen werden (Überwindung des Hungers, Gesundheitsförderung, Überwindung des Energiemangels) und ökologische Anliegen als unvereinbar mit der Entwicklung gelten, hat das Forum in Porto Alegre gezeigt, dass sich die betroffenen Völker von solchen Diskursen nicht verführen lassen. Sie verstehen sehr wohl, dass sich hinter diesen Schalmeiklängen die Profitinteressen kleiner Minderheiten verbergen.

Brasilien und Porto Alegre sind wie ein Schaufenster, das die Bedeutung dieser sozialen Bewegungen zeigt. Zu erwähnen sind etwa die Landlosenbewegung und Volksbewegungen für menschenwürdige Wohnungen oder gegen die Gewalt. Beispiele für den sozialen Aufbruch sind aber auch partizipative Stadtbudgets und die Aktivitäten der Zivilgesellschaft für die Gestaltung einer Megapole wie Sao Paulo.

All diese Bewegungen sind ein wichtiger Teil eines emanzipatorischen Prozesses. Sie tragen nicht nur zur Verbesserung der materiellen Situation der Menschen bei, sondern auch zur Wiedergewinnung des Bewusstseins der eigenen Würde.

Auf dem Forum ist die Vielfalt und die kämpferische Kraft dieser Gruppen deutlich geworden. Sie sind in den verschiedensten Bereichen aktiv: im Bildungs-, Kultur- und Gesundheitsbereich, aber auch in internationalen Zusammenhängen wie etwa beim Weltmarsch der Frauen oder in internationalen Bauernvereinigungen usw.

Welch ein Kontrast zwischen dem sozialen Aufbruch in Porto Alegre und der Versammlung des internationalen Kapitals in Davos, das – unterstützt von den politischen Behörden – zur gleichen Zeit nichts besseres wusste, als mit Polizei und Armee jede Opposition zum Schweigen zu bringen!

Soziale und politische Globalisierung
Die Antwort auf die wirtschaftliche Globalisierung muss eine soziale und politische Globalisierung sein. Die Universalisierung des Profits ist unvereinbar mit dem Schutz des Gemeinwohls. Die Lebensgrundlagen gehören allen und nicht nur einigen wenigen, sie müssen sozusagen „globalisiert“ werden. Es ist bemerkenswert, dass in diesem Sinne die Forderungen der Opposition im Norden wie im Süden übereinstimmen: Erhalt des Service Public, Ablehnung von Privatisierung und Individualisierung, nachhaltige Entwicklung, Erhalt der Biodiversität, Kampf gegen den sozialen Ausschluss usw. sind gemeinsame Anliegen des Widerstandes in Nord und Süd. Hier finden sich auch die fünf Kriterien einer grünen Politik: Langfristigkeit, Qualität, Solidarität, Dezentralisierung und Vielfalt.

Das Weltsozialforum war ein erster Versuch, die verschiedenen Widerstandsbewegungen zu „globalisieren“. Dieser globalisierte Widerstand steht vor grossen Herausforderungen. Wie bringt man beispielsweise unsere Idee der Dezentralisierung zusammen mit einer Globalisierung der Politik und einer territorialen «Enteignung»? Die Länder des Südens, insbesondere die autochtonen Gemeinschaften in Lateinamerika, haben lange für die Anerkennung ihres Besitzrechts auf den Boden, auf dem sie leben, und auf die natürlichen Ressourcen gekämpft. Wie diesen Anspruch zusammenbringen mit der Vorstellung, dass gewisse Güter zum Allgemeingut der Menschheit gehören?

Eine andere Herausforderung ist die Frage der Besteuerung von Finanztransaktionen (Tobin-Taxe). Zur Realisierung dieser Forderung braucht es vermutlich die Bildung internationaler Instanzen, vielleicht ein Weltparlament, das die Modalitäten der Erhebung der Steuer und ihre Verteilung regelt.

Weiter stellt sich die Frage, wie die Beziehung zwischen den sozialen Bewegungen und den politischen Institutionen zu gestalten ist. Sehr eng damit verbunden ist die Frauenfrage. Die Situation in Brasilien ist in dieser Beziehung aufschlussreich. Die Frauen sind sehr aktiv in den Volksbewegungen, aber deutlich untervertreten in den Institutionen. Hier hält das Patriarchat seine Privilegien und seine Macht. Als Organisation, die diesen Bewegungen und Vereinigungen nahe steht und für die Gleichberechtigung der Frauen sehr sensibel ist, haben die Grünen eine wichtige Rolle zu spielen.

Das Engagement der Grünen Schweiz
„Eine andere Welt ist möglich“ – dieser Slogan des Weltsozialforums hat viel Enthusiasmus und Elan hervorgerufen. Die Grünen Schweiz wollen
dazu beitragen an dieser anderen Welt mitzubauen. Um zu verhindern, dass der herrschenden wirtschaftlichen Logik das ganze Leben unterworfen oder zerstört wird, engagieren sie sich für die folgenden Forderungen:

Grundsätzlich

  • Für direkte Demokratie, Partizipation der Bevölkerung und Respektierung der Menschenrechte in allen Staaten
  • Für eine demokratische Kontrolle der Wirtschaft
  • Für die Stärkung der Unabhängigkeit und Transparenz der Politik
  • Für eine Alternative zur Wachstumsideologie
  • Für eine nachhaltige Wirtschaft, die sozial- und umweltverträglichen Standards unterworfen wird

International

  • Für eine umfassende Reform der WTO und der Internationalen Finanzorganisationen, gegen eine Teilnahme der Schweiz am Multilateralen Investitionsabkommen MAI
  • Für den Erlass der Schulden für die armen Länder
  • Für die Einführung einer Kapital- und Börsensteuer (Tobin-Taxe)
  • Für eine Ende der Strukturanpassungsprogramme unter dem Diktat von IWF und Weltbank
  • Für eine internationale Wasserkonvention, die das Wasser als öffentliches Gut garantiert

National

  • Für eine politische Öffnung, für die Verstärkung der guten Dienste, für ein verstärktes Engagement in Europarat und OSZE und für den Beitritt der Schweiz zur EU und zur UNO
  • Für eine Kooperation mit allen Staaten Europas, insbesondere auch jener in Mittel- und Osteuropa
  • Für die Unabhängigkeit der politischen Behörden gegenüber der Wirtschaft. Insbesondere verlangen die Grünen von den PolitikerInnen die vollständige Offenlegung aller Mandate in Verwaltungsräten und ein Verbot für Verwaltungsratsmandete in grossen Firmen
  • Für eine demokratische und unbehinderte Auseinandersetzung um die Folgen der wirtschaftlichen Globalisierung. Wir fordern den Bundesrat auf, künftig an Treffen wie jenem in Porto Alegre teilzunehmen
  • Für eine Aussenwirtschaftspolitik, die die wirtschaftliche Zusammenarbeit an die Einhaltung der Menschenrechte und der Demokratie bindet
  • Für eine Erhöhung des Budgets für die Entwicklungszusammenarbeit
  • Für die Aufhebung des Bankgeheimnisses für Fluchtgelder und Steuerhinterziehung

Wir Grünen wollen uns entschieden einsetzen für die Globalisierung von Menschenrechten, von sozialen und ökologischen Anliegen – damit eine andere Welt möglich wird.

*Am Weltsozialforum in Porto Alegre nahmen Anne-Catherine Menétrey, Nationalrätin VD, Patrice Mugny, Nationalrat GE und Erica Hennequin, Vizepräsidentin der Grünen Schweiz, teil. An den Gegenveranstaltungen in Davos Pia Hollenstein, Nationalrätin SG.

Verabschiedet von der Delegiertenversammlung am 10. März 2001 auf dem Monte Genoroso, TI