Präsidialrede Balthasar Glättli – DV 20.08.22
Präsidialrede von Balthasar Glättli an der Delegiertenversammlung der GRÜNEN vom 20. August 2022 in Zug.
Eine Zeit der Entscheidung
Vor 50 Jahren hiess es «Moskau einfach», wenn jemand am Selbstverständnis und am Schmierwerk der bürgerlichen Schweiz kratzte.
Vor 30 Jahren brach die Sowjetunion auseinander, und der renommierte Politologe Francis Fukuyama prägte den Begriff vom «Ende der Geschichte», des «End of History»:
Das bürgerlich-kapitalistische System hat gesiegt, der freie Markt wird alles richten, er ist der Weisheit letzter Schluss. Unregulierter Handel und unbegrenztes Wachstum – sie ermöglichen auf wundersame Weise auch die Weiterentwicklung der Demokratie.
Darum muss im globalisierten Wettbewerb alles daran gesetzt werden, Business anzuziehen. Wer an diesen Grundsätzen zweifelte, wer die Nachhaltigkeit des Modells in Frage stellte, wurde abgestempelt: Als Gutmensch, als Naivling oder gar als Nestbeschmutzer*in, als mühsamen, mühsame «Menschenrechtler*in», als unverbesserliche Ideologin, als unverbesserlicher Ideologe.
Niemand weiss das besser als die Zuger*innen, die schon seit Jahrzehnten das Zuger Offshore Modell lautstark kritisieren – ein Modell, das auf kurzsichtigen Profit ausgerichtet ist und auf Kungelei setzt:
auf Kungelei mit Putin,
auf Kungelei mit russischen Staatsfirmen und deren Vertreter*innen wie Gerhard Schröder,
auf Kungelei mit den Oligarchen von Putins Gnaden.
Liebe GRÜNE,
Chères Vertes, chers Verts,
Cari VERDI
Gut drei Jahrzehnte nach dem «Ende der Geschichte» hat der Nachfolger der Sowjetherrscher am roten Knopf den Angriffskrieg nach Europa zurückgebracht – ein Krieg, der auch 6 Monate später Stadt um Stadt in Trümmer legt und unfassbares Leid über die Zivilbevölkerung bringt.
Ein Krieg, der eigentlich schon viel früher begonnen hat: Vor Jahren schon. Mit der Repression der freien Medien, der Menschenrechtsverteidiger*innen, der politischen und wirtschaftlichen Opposition. Mit den Bomben in Tschetschenien, in Georgien, in Syrien. Mit der illegalen Annexion der Krim – vor den Augen der Weltöffentlichkeit.
Ein Krieg auch, in dem Putin ganz unverhohlen am Gas- und Ölhahn drehen kann, weil unser System davon abhängig ist wie von einer Droge.
Ein Krieg, der schmerzhaft verdeutlicht, was die immer dramatischeren Folgen der Klimakrise seit Jahren brennend klar zeigen: Unsere Wegwerfgesellschaft mit dem Glauben ans grenzenlose, fossil befeuerte Wachstum, die zum End- und Kulminationspunkt der Geschichte verklärt wurde und wird, hat keine Zukunft. Ist in ihren Grundfesten erschüttert.
Es gibt kein Ende der Geschichte.
Es gibt nur die Selbstgefälligkeit zu glauben, man hätte es erreicht.
Die Selbstgefälligkeit der Gläubigen des freien Marktes, die meinen, die «unsichtbare Kraft des freien Marktes» richte alles bis in alle Ewigkeit.
Auch unser Bundesrat operiert in dieser Ideologie – wie, wenn nichts oder nicht viel geschehen wäre in den letzten Monaten: Nur möglichst weiter so wie bisher. Nur dem freien Markt nicht dreinreden. Ueli Maurer macht es vor: Augen zu, Ohren zu und bisweilen, wenn es um Oligarchengelder geht, um die Rolle der Schweiz als Steuerparadies und Rohstoffdrehscheibe, auch Nase zu. Nur keine neue, keine andere Schweiz! Wir GRÜNE stehen ein für eine Schweiz, die auf einem verantwortungsvollen, stabileren, auf einem postfossilen Fundament steht, für eine Schweiz, die nicht länger im Schatten der Geschichte Profite macht. Versteht mich nicht falsch: Ich habe nichts gegen Ideologien. Der Begriff der Ideologie hat mit Weltanschauungen, Grundeinstellungen und Wertungen – und mit Ideen – zu tun und ist damit letztlich die Grundlage von Politik. Ich wehre mich aber gegen die Ideologie, der Glaube an den Markt sei selbst keine. Ich wehre mich gegen eine Marktgläubigkeit, die sich als Pragmatismus verkauft, weil sie ihre eigene Ideologie dahinter gar nicht mehr sieht oder sehen will. Ich wehre mich gegen eine Ideologie, die das Politische negiert, indem sie die heutigen Regeln des Markts als Naturgesetz versteht und vor alles Politische erhebt. Und die so sämtliche Verantwortung – für die Menschen, fürs Klima, für die Umwelt – von sich schiebt.
Versteht mich nicht falsch: Ich habe auch nichts gegen den Markt. Aber er ist eine menschgemachte Veranstaltung, kein gottgegebenes Ende der Geschichte, und auch kein naturgegebener Urzustand. Jeder Markt entsteht überhaupt erst dank politischen Gesetzen und Regulierungen, und es sind diese Rahmenbedingungen, die entscheiden, ob der Markt die Reichsten noch reicher und die Umwelt noch kränker macht – oder ob er Innovationsgeister weckt für Lösungen mit Zukunft.
Lösungen für die Zukunft – getragen vom Ideal, unsere Wirtschaft und Gesellschaft auf eine gerechtere und nachhaltigere Basis zu stellen.
Ich bin also gerne Ideologe, wenn damit gemeint ist, Werte zu haben: Gerechtigkeit, Solidarität, Nachhaltigkeit. Grüne Werte.
Ich bin gerne Ideologe, wenn damit gemeint ist, Ziele zu haben, politische Ziele, grüne Ziele. Das Ziel einer gerechteren, feministischeren, demokratischeren Aussenpolitik. Wandel im Handel statt Wandel durch Handel. Das Ziel einer Sozialpolitik, die sich am Wohl der Schwächsten orientiert. Das Ziel einer Umweltpolitik, die nicht Etikette ist, sondern den Erhalt der Biodiversität ins Zentrum stellt. Das Ziel einer Energiepolitik, mit der wir unsere Energieversorgung grundlegend, entschieden und schnell auf eine postfossile Basis stellen.
Ich bin gerne Ideologe, wenn damit gemeint ist, Vorschläge auf den Tisch zu bringen, wie diese Ziele umzusetzen sind. Grüne Vorschläge.
Unsere grünen Vorschläge, liegen seit Jahren auf dem Tisch – und sie hätten die Energiekrise, wie sie uns jetzt bevorsteht, verhindert. Sie hätten uns unabhängiger gemacht von Autokraten wie Putin. Und somit die Demokratie und die Menschenrechte gestärkt. Sie hätten dafür gesorgt, dass Umwelt und Klima besser geschützt werden – und dass wir diesen Sommer, in diesen Tagen der Dürre und der Hitze nicht jeden Tag hätten denken müssen: «Hätten die Schweiz doch früher reagiert.»
Die rechte Mehrheit hat in den letzten Jahren und davor viel darangesetzt, die ambitioniertesten Schritte in Richtung ökologische Wende zu blockieren. Und im Hinblick auf die kommenden Abstimmungen und Wahlen wollen jetzt gar Big Business und Bauernlobby zusammenspannen gegen GRÜNE und Linke. Das Motto: Pestizide und Subventionen für die Bauern, Steuerdumping für die internationalen Grosskonzerne. Ein elender Kuhhandel – «Loose-loose» für die Natur, für die Gesundheit und für die ganz normalen Steuerzahlenden.
Doch wir GRÜNEN bleiben dran. Und wir haben nach dem Wahlsieg 2019 trotzdem wichtige Erfolge erzielt – trotz Gegenwind, trotz einer bürgerlichen Gegenbewegung nach dem Motto: alle gegen die GRÜNEN.
Es sind uns Erfolge gelungen, weil wir Überzeugungsarbeit leisteten hinter den Kulissen und weil der Druck der Klimabewegung, der Wähler*innen auf die Politik weiter gross war. Die Erfolge in den Kantonen, welche die GRÜNEN zur Partei mit den meisten Sitzgewinnen machte, sie haben uns Rückenwind gegeben:
- Dank unserer Parlamentarischen Initiative Girod wurden vor einem guten Jahr die Weichen gestellt zum zusätzlichen Ausbau der Erneuerbaren im Umfang von 3 AKW.
- Im Nationalrat haben wir GRÜNE massgeblich einen wirksamen Gegenvorschlag zur Gletscherinitiative geprägt, der nach dem Nein zum CO2-Gesetz endlich einen grossen Schritt vorwärts für den Klimaschutz bringen kann.
- Und dann natürlich der Klimafonds für einen Green New Deal. Eine historische Premiere. Zwei Parteien, wir GRÜNE zusammen mit der SP, lancieren gemeinsam eine Volksinitiative: Gemeinsam sind wir stark, gemeinsam wollen wir Erfolg – gemeinsam stellen wir die Bewältigung der Jahrhundert-Herausforderung vor die Schönheitskonkurrenz der Parteien. Klimagerechtigkeit, biologische Vielfalt, Innovation und Jobs für die Zukunft: Der Klimafonds für einen Green New Deal garantiert, dass die öffentliche Hand in die Zukunft investiert. Wir zählen auch auf DICH, auf Deine Unterstützung: Trage Dich ein, jetzt auf den Blättern auf dem Tisch, mit Deinem Unterschriftenversprechen!
- Auch in den Kantonen bringen grüne Aktivist*innen und unsere Regierungsrätinnen und Regierungsräte zielstrebig und hartnäckig zukunftsfähige Lösungen hervor, mit ambitionierten Energiegesetzen, wie die Jungen Grünen sie in Glarus durchsetzten oder unser grüner Regierungsrat Martin Neukom im Kanton Zürich – und das mit Zustimmung auch der bürgerlichsten Bezirke.
- Und wir bleiben nicht stehen – gerade auch hier und heute in Zug nicht: Mit zwei Resolutionen fordern wir, die Schweizer Aussen-, Aussenhandels- und Energiepolitik auf neue, auf zukunftsfähige, nicht auf kurzen Profit ausgerichtete Fundamente zu stellen: Auf Frieden und Menschenrechte, auf Friedens- und Freiheitsenergien. Dazu gehört auch, was gerade die Zuger GRÜNEN schon lange fordern: Kein Steuerdumping mehr, dafür endlich eine rechtsstaatliche Kontrolle des Rohstoffhandels – Wandel auch im Handel mit Rohstoffen also!
Es gäbe noch viel mehr – und das zeigt: Wir GRÜNEN haben Ideen und Lösungen – wir sind en pleine forme! Wir GRÜNE sind die Kraft für die zukunftsgerichtete Überwindung der Krise. Für einen tiefgreifenden, ökologischen Wandel. Für die Rückkehr des Politischen: Weil wir die Verantwortung des Menschen ernst nehmen, die Verantwortung, dem Markt als menschgemachte Veranstaltung menschgemachte, demokratisch legitimierte Leitplanken zu setzen.
Wir sind nicht am Ende der Geschichte, sondern an einem fundamentalen Wendepunkt – und wir wollen, wir werden gemeinsam die Geschichte an diesem Wendepunkt prägen, für eine Zukunft mit Zukunft.