Brechen wir den Beton auf!

Willkommen im neuen Jahrzehnt, liebe GRÜNE. Es ist ein Jahrzehnt des Wandels, es ist ein Jahrzehnt der Entscheidungen, es ist das Jahrzehnt der grünen Bewegung.

Nie zuvor fanden so viele globale Umbrüche gleichzeitig statt. Wenn die jungen Menschen von heute eine gute Zukunft haben sollen, können wir diese Zukunft nicht den radikalen Marktkräften überlassen. Nicht den Brandstiftern wie Bolsonaro oder Trump, der sich vom WEF und damit der Schweiz sogar seinen Wahlkampf sponsern lässt. Auch nicht den Zögerern und Zauderern wie Nationalbankpräsident Jordan. Der sagt offen: Zuviel Umweltschutz schränkt die Anlagemöglichkeiten ein. Das heisst doch nichts anderes als «Après nous le déluge» – nach uns die Sintflut.

Wir haben keine Zeit mehr für solche Verantwortungslosigkeit. Die Uhr tickt. Wir müssen in genau diesem Jahrzehnt einen Weg aus der Klimakrise finden, aus der Zerstörung der Artenvielfalt, aus der Verdreckung der Meere, der Böden und der Luft. Wir müssen jetzt die Globalisierung gerechter und ökologischer machen, mit neuen Handelsspielregeln, mit mehr Konzernverantwortung. Wir müssen heute den digitalen «Take off», die Anwendung von künstlicher Intelligenz so regeln, dass sie die Menschen freier macht und nicht überflüssig. Dazu wollen wir die Demokratie stärken, die Chancengleichheit, die Grundrechte, den kritischen Geist. Denn das, liebe GRÜNE, ist die Voraussetzung für Fortschritt. Für die moderne, nachhaltige, weltoffene Schweiz des 21. Jahrhunderts.

Das neue Jahrzehnt wird entscheidend sein. Wir haben schon viel zu viel Zeit verloren. Vor kurzem hat mir Erna Staub von den GRÜNEN Zürich eine Broschüre geschickt. Aus dem Jahr 1983 – da war ich 21 Jahre jung. Es lohnt sich, das zu lesen. Der Autor, ein bekannter Journalist, startet mit einem Gedankenexperiment. Vom Jahr 2084 aus blickt er zurück. Er beschreibt, wie der Klimawandel in den fiktiven 1990er Jahren zum Medienspektakel wurde, zum Wahlkampfthema. Wie sich die Klimaveränderung nach dem Jahr 2000 zur Menschheitsfrage Nummer eins entwickelte. Wie die Eiskappen der Antarktis verschwanden, der Meeresspiegel stieg, Millionen von Menschen ins Landesinnere flohen. Kurz: Man wusste was kommt, 1983. Es war alles bekannt. Stellt euch vor, die Politik hätte damals ihre Hausaufgaben gemacht? Wie viele Gletscher hätten gerettet werden können? Wie viele Millionen Tiere wären nicht verbrannt im australischen Inferno der letzten Wochen? Wie viele Menschen hätten eine bessere Zukunft?

Ja, es macht einen Unterschied, ob man etwas tut oder unterlässt.

1983, als die Schweizer UNESCO-Kommission diese Broschüre veröffentlichte, wurden die GRÜNEN Schweiz gegründet. Sie bekämpften Autobahnprojekte, Atomkraftwerke, die Zerstörung von Naturlandschaften. Sie lancierten 1994 die Initiative «Energie statt Arbeit besteuern» – das erste Projekt für eine ökologische Steuerreform in der Schweiz.

Dann kamen die Klimainitiative, die Stopp-Offroader-Initiative, die Initiativen für eine grüne Wirtschaft, für eine faire und umweltfreundliche Landwirtschaft, für den Schutz des Kulturlandes – ihr kennt das alles.

Ja. Wir waren der Zeit voraus, wurden belächelt, bekämpft, als «grüner Schleim» diffamiert. Und trotzdem stehen heute immer mehr Menschen genau dort, wo wir GRÜNE angefangen haben. Ich bin stolz auf unsere Geschichte und auf das, was wir erreicht haben – immer mit Bewegungen, mit engagierten Organisationen zusammen. Veränderung ist Teamwork. Es ist deshalb gut, dass nun auch andere Parteien ihre grüne DNA entdecken. Nur gemeinsam haben wir die Kraft, schneller vorwärts zu kommen, in diesem Jahrzehnt, das zählt. Aber auch wir zählen – nämlich die Zahl der gebrochenen Versprechen.

Eines ist klar: Wir GRÜNE können uns nach dem Wahlerfolg im Herbst nicht zurücklehnen. Wir müssen unsere neue Stärke nutzen, um die progressive Politik voranzutreiben. Doch uns wird nichts geschenkt. Das haben wir ja bei den Bundesratswahlen klar gesehen. Machterhalt, das war für SVP, FDP und CVP am 11. Dezember das oberste Ziel. Deshalb sind wir GRÜNE heute eine Bundesratspartei ohne Bundesrätin. Das hat Konsequenzen. Es fehlen uns Informationen und Hebel in der Verwaltung, um den dringenden Kurswechsel von innen her zu beschleunigen. Deswegen wollen uns die anderen Parteien nicht in der Regierungsverantwortung. Umso aufmüpfiger müssen wir von aussen sein. Wir werden für jede Verbesserung weiterhin knochenharte Überzeugungsarbeit leisten müssen. Dazu brauchen wir euch alle! Die Sektionen, die neuen Mitglieder, die alten Hasen, die Macher*innen in Regierungen und Parlamenten, das super Seki-Team. Setzen wir uns überall für ein gutes Klima ein.

Wer aus der Minderheitsposition heraus etwas erreichen will, muss gezielt vorgehen. Wir brauchen zuallererst rasch ein neues CO2-Gesetz. Und zwar eines, das dem drohenden Referendum der SVP trotzt. Auf diesem Fundament bauen wir dann wie bei einer Crème-Schnitte weiter auf. Wir wollen den Finanzplatz auf erneuerbare Investitionen umlenken, den Verkehr fossilfrei machen, die Kreislaufwirtschaft stärken. Bis wir bei «Netto 0» sind. Klimagerechtigkeit ist unser Ziel.

All das gelingt nur, wenn die Klimabewegung weiter Druck macht, so wie mit dem «Strike for Future» am 15. Mai. All das gelingt nur, wenn wir die Menschen direkt erreichen, auf dem Land und in der Stadt. Wir leben in einer Demokratie, zum Glück. Es gibt keine Abkürzungen. Wir müssen uns den kritischen Fragen stellen, wir müssen in Sääli und Turnhallen, auf Messen und auf dem Märit über konkrete Lösungen, aber auch über reale Sorgen reden. Eine der Sorgen, die ich immer wieder höre, sind die Kosten der Klima- und Verkehrswende für Menschen mit dünnem Portemonnaie. Das nehmen wir ernst. Und wir stellen sicher, dass Klimapolitik immer auch soziale Politik ist. Das Ja zur Wohninitiative am 9. Februar ist ein erster wichtiger Schritt dazu.

Aber machen wir uns nichts vor: Viele Ängste und Sorgen werden ganz bewusst geschürt, um den Status Quo zu verteidigen. Mit Fake News, mit Zerrbildern und mit Millionen aus Herrliberg. Diese Ewiggestrigen wollen unsere Zukunft kapern. Wir kommen deshalb nicht darum herum, die rechten Faktenverdreher knallhart in den Senkel stellen. Ausführliche Gelegenheit dazu werden wir bei der Initiative zur Kündigung der Personenfreizügigkeit und dem drohenden Referendum gegen das CO2-Gesetz haben. Es sind die zwei wichtigsten Abstimmungen in diesem Jahr. Wir müssen und werden sie gewinnen.

Liebe GRÜNE. Dank dem historischen Wahlsieg vom 20. Oktober haben wir die Chance, auch Reformen für das soziale, das gesellschaftliche Klima voranzubringen. Wir wollen die Gleichstellung mit einer modernen Individualbesteuerung stärken. Wir wollen die inakzeptable Rentenlücke der Frauen stopfen. Wir wollen die Kinderarmut im reichsten Land der Welt bekämpfen. Wir wollen nach 23 Jahren endlich die Ehe für alle einführen. Wir wollen das Stimmrechtsalter 16 durchbringen. Wir wollen Waffenexporte stoppen. Kurz: Wir werden arbeiten, dass die Wände wackeln.

Die Erwartungen sind gross. Doch auch die Dynamik, das Potenzial unserer Partei sind gross. Im März wählt die Delegiertenversammlung ein neues Präsidium. Wir brechen in eine neue Etappe der GRÜNEN auf. Das neue Präsidium wird mit euch zusammen nicht nur die Umsetzung unseres Wahlprogrammes anpacken, sondern auch die neuen, langfristigen Schwerpunkte festlegen.

Auch bei mir tickt also die Uhr. Ich bin noch genau zwei Monate lang im Amt. Was ich mit euch zusammen in den letzten acht Jahren bewegen durfte, hat mich bereichert und glücklich gemacht. Unsere Partei ist so stark wie noch nie, mit rund 11’000 Mitgliedern, mit innovativen Fachleuten, mit aktiven Netzwerken, mit einer Rekordzahl an Kantonsratssitzen – die ihr bei den acht kantonalen Wahlen in diesem Jahr gerne noch toppen könnt. Es gibt immer Luft nach oben. Aber eines ist für mich klar. Der wichtigste Nährboden für unsere Erfolge ist die Menschlichkeit. Und die gibt es bei den GRÜNEN im Überfluss. Wir respektieren einander – auch bei Meinungsdifferenzen, wir lernen voneinander, wir unterstützen einander, wir sagen, was wir denken, und wir leben, was wir sagen: Vielfalt, Respekt und Nachhaltigkeit. Machen wir weiter so, liebe GRÜNE. Brechen wir den Beton auf!

Präsidialrede (PDF)