Präsidialrede Regula Rytz – DV 20.08.2016
Präsidialrede Regula Rytz – Delegiertenversammlung vom 20. August in Freiburg
Die Welt ist voller Lösungen – und offen für grüne Politik!
Schön, seid ihr heute alle nach Fribourg gekommen. Die Menschen in diesem Land brauchen euch, sie brauchen die Grünen. Sie brauchen unser Engagement, gegen die illegale Grenzschliessung im Tessin, für eine nachhaltige Umweltpolitik, für eine gerechte Sozialpolitik.
Überall stehen die Zeichen auf Sturm. Gestern hat die Sozialkommission des Nationalrates über die Altersreform 2020 entschieden. Statt den ständerätlichen Kompromiss, also die bescheidene Erhöhung der AHV-Rente um 70 Franken, zu unterstützen, setzen die rechten Parteien ihre Abbaupläne ohne Rücksicht auf Verluste durch. Die Beschlüsse sind eine einzige Provokation: Rentenalter 67 für Frauen und Männer, nicht kompensierte Rentenkürzungen beim Umwandlungssatz, Kürzungen bei Kinder- und Waisenrenten, Verzicht auf gewinnbeschränkende Regeln bei den profitorientierten Lebensversicherungen. Kurz: eine Reform nach dem Motto: Was kümmern uns die Menschen, Hauptsache einigen Versicherungen geht es gut. Das ist für uns Grüne inakzeptabel.
Man braucht keine Prophetin zu sein um zu sehen, dass die Altersreform so vor einem Scherbenhaufen steht und nie eine Volksabstimmung überleben wird. Wir Grüne werden sie bekämpfen – und wir sind nicht allein. Die Menschen mit bescheidenem Einkommen werden sich nicht freiwillig in die Altersprekarität drängen lassen. Doch das ist der neuen rechtsbürgerlichen Mehrheit im Parlament egal. Sie zelebrieren die Stunde der Ideologen und rufen „jetzt wird dürezoge“. Seit November 2015 wurde der Entwicklungshilfekredit gekürzt, das Armeebudget aufgestockt, milliardenschwere Steuergeschenke für die Unternehmen beschlossen, eine Verbesserung des Mietrechts abgeschmettert und die Energiestrategie weiter gerupft. Ich erspare euch weitere Details. Wir haben sie in einem „Schwarzbuch“ zusammengefasst, das jeden Tag länger wird.
Schwarzsehen ist trotzdem nicht angezeigt, denn der Rechtsrutsch hat auch die Kanten geschärft und eine gesunde Gegenreaktion ausgelöst. Seit den nationalen Wahlen im letzten Jahre haben viele grüne Sektionen neue Mitglieder gewonnen und die Zahl der Spenden erhöht. Die vernünftigen Menschen in diesem Land wollen die Politik nicht den Populisten überlassen, sondern stärken uns Grüne als Gegenpol. Wir sind deshalb gut gerüstet für den heissen Politherbst, der vor uns liegt.
Neben verschiedenen kantonalen Wahlen wie zum Beispiel in Fribourg werden uns vor allem die zwei Kampagnen für die beiden eidg. Volksinitiativen beschäftigen. Eine Abstimmung über zwei grüne Volksinitiativen in drei Monaten, das gab es noch nie. Nicht dass es uns früher an Ehrgeiz fehlte. Schon 1994 waren wir mit zwei Initiativen gleichzeitig unterwegs. Ihr erinnert euch. Eine davon war die Initiative für ein flexibles AHV-Rentenalter ab 62 Jahren, die im Jahr 2000 ein sensationelles Resultat erzielte. 46 Prozent stimmten zu. Mit der Initiative für eine Grüne Wirtschaft wollen wir es nun erstmals über die 50-Prozent-Linie schaffen. Die neuste Umfrage zu den Abstimmungen im Herbst zeigt, dass das möglich ist. 61 Prozent der Befragten wollen der Initiative heute zustimmen. Das ist eine Sensation – und eine riesige Anerkennung für eure Arbeit!
Das Geheimnis hinter diesem Erfolg ist neben dem überzeugenden Inhalt auch die Bündnispolitik. Noch nie hat eine so breite Allianz aus Wirtschaft und Gesellschaft ein grünes Projekt unterstützt. Nicht nur unterstützt, sondern richtiggehend adoptiert. Faktisch haben wir sogar Bundesrätin Doris Leuthard an Bord. Sie bemühte sich letzten Donnerstag zwar redlich darum, die Initiative schlecht zu reden. Aber das war wenig überzeugend, wenn man die ganze Vorgeschichte kennt. Ich kann mich noch so gut daran erinnern, wie die Umweltministerin die bürgerlichen Parteien abkanzelte, weil diese ihren Gegenvorschlag bekämpften. Sie pfefferte Economiesuisse ihre eigenen Studien um die Ohren und ermahnte die Vertreter des Gewerbeverbandes, man könne sich ja durchaus mal mit der Sicherheit des ganzen Planeten beschäftigen, das sei dann „vielleicht auch nicht ganz unbedeutend.“
Gut gebrüllt, Doris Leuthard und danke dafür, dass Sie sich auch über die Angstkampagne der konservativen Wirtschaftsverbände lustig machen. Diese haben offenbar noch nie etwas von Solarthermie, Kreislaufwirtschaft und nachhaltigen und fairen Produkten gehört. Sie verstehen übrigens auch den Freiheitsbegriff völlig falsch. Freiheit heisst nicht, dass jeder tun und lassen kann was er will und den anderen dann das Aufräumen überlässt. Nein. Freiheit heisst immer auch, Verantwortung übernehmen. Oder wie es der Philosoph Immanuel Kant so schön sagte: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Kurz: Die Regeln, die für Dich gelten, müssen auch bei anderen funktionieren.
Oder noch einfacher gesagt: Die Freiheit des einen hört dort auf, wo die Freiheit des anderen beginnt. Und genau diese Freiheit der anderen, unserer Kinder und Enkelkinder, ist in Gefahr. Die globale Klimaerwärmung und die Ressourcenverknappung vernichten weltweit die Lebensgrundlagen und damit die Freiheit der künftigen Generationen. Anstatt mit Chancen und Wahlmöglichkeiten müssen sie sich mit Altlasten, mit Abfallbergen, mit Knappheit und Konflikten herumschlagen. Und das nur, weil die Geldeliten nie genug bekommen. Die FDP kann sich deshalb hinter die Ohren schreiben: Man ist nicht liberal, indem man verteidigt, was die Freiheit zerstört. Mit unserer Kampagne „Nachhaltig bis 2050“ und mit unserem leidenschaftlichen Einsatz für Grund- und Menschenrechte haben wir Grünen die FDP längst als Partei der Freiheit abgelöst.
Wir steigen mit Freude und gut vorbereitet in den heissen Kampagnenherbst. Doch wir müssen ehrlich zugeben, dass wir die Agenda nicht alleine bestimmen können. Jeden Tag gab es in diesem Sommer neue Schreckensmeldungen zu verdauen. Amok, Attentate, das Aushebeln der Menschenrechte nach dem gescheiterten Militärputsch in der Türkei, ein neuer Klimaerwärmungsrekord, das Flüchtlingselend in Italien. Und rechte Politiker, die aus dem Leiden der Menschen billiges Kapital schlagen wollen.
Neben der katastrophalen Lage in der Türkei und den Haftbefehlen gegen die Vertreter der HDP, mit der wir sehr gute Kontakte pflegen, hat mich vor allem das Ja zum Brexit erschüttert. Nicht nur wegen der vielen Parallelen zur Masseneinwanderungsinitiative. Sondern wegen der Frage, wie es mit Europa, mit der EU und vor allem mit dem Menschen in Europa weitergehen soll.
Ich weiss, dass wir Grünen insbesondere zur Frage eines EU-Beitrittes unterschiedliche Meinungen haben. Die europäischen Krisen der letzten Jahre, die Flüchtlingskrise, die Währungskrise, die Griechenlandkrise haben Brüssel für viele von uns weit wegrücken lassen. Doch das kann ja nicht das Ende der Fahnenstange sein. Wir können und wir dürfen Europa nicht den Nationalisten, Populisten, Aufhetzern, Spaltpilzen und Eliten überlassen. Nein, wir müssen uns gerade als Grüne mit aller Kraft für Frieden und Stabilität in Europa einsetzen. Denn nur ein geeinigtes, soziales, ökologisches, demokratisches Europa bietet allen Menschen auf dem Kontinent faire Lebenschancen. Und nur ein geeinigtes, soziales, ökologisches und demokratisches Europa kann international eine friedensfördernde Rolle spielen, als Gegenpol zu den Grossmachtsinteressen der USA, von Russland und wie sie alle heissen. Grossmachtinteressen, die eine Lösung im syrischen Bürgerkrieg seit Jahren torpedieren und die Menschen dort unermesslichem Leiden aussetzen.
Weil wir in der Schweiz nur Zaungäste sind in der innereuropäischen Reform-Debatte, haben wir heute Morgen Sven Giegold zu Gast bei uns. Der grüne Europaabgeordnete aus Nordrhein-Westfalen wird uns zeigen, wie die EU von innen reformiert werden kann, damit sie wieder näher zu den Menschen rückt. Die soziale Spaltung zwischen oben und unten, zwischen armen und reichen Ländern ist ja der Nährboden des Rechtspopulismus und der Fremdenfeindlichkeit. Nur wenn wir die Spaltung überwinden können wird Europa in der Lage sein, endlich die globalen Fluchtursachen, den Klimawandel und die fortschreitende Zertrümmerung der Menschenrechte zu bekämpfen.
Apropos Zertrümmerung der Menschenrechte: nach den Sommerferien hat ja die SVP einmal mehr eine beschämende Initiative eingereicht. So wie Griechenland zur Zeit der Militärdiktatur will die SVP aus der europäischen Menschenrechtskonvention aussteigen. Doch wir alle werden ihr einen Strich durch die Rechnung machen. Wir zeigen der Menschenrechtszertrümmerungsinitiative schon heute die rote Karte und werden nie und nimmer zulassen, dass die Schweiz ihre humanitären Werte und Traditionen, den Rechtsstaat und den Schutz von Minderheiten opfert.
Liebe Grüne
Wir können viel bewegen und wir haben schon viel bewegt. Viele von euch haben im Sommer im preisgekrönten Film „Tomorrow“ gesehen, wie man die Welt durch Mut, Phantasie und kollektives Handeln wieder auf Kurs bringen kann. Der Sog der positiven Beispiele und die selbstbewussten Bürger/innen ziehen alle in den Bann. Der Film fühlt sich an wie die bildliche Umsetzung des Grünen Kernprogrammes, das auf Langfristigkeit, Solidarität, Qualität, Dezentralisierung und Vielfalt setzt.
Genauso werden wir unsere Projekte in diesem Herbst zum Erfolg bringen. Die Welt ist voller Lösungen und offen für grüne Politik. Ich danke euch, dass ihr mit uns zusammen die Chancen packt!