Lösungen statt Sündenbockpolitik

Wir starten in einer Zeit der Verunsicherung, in einer Zeit der Polarisierung, in einer Zeit des Umbruchs in die nationalen Wahlen.

Liebe Grüne,

Ich hoffe, ihr habt alle eine Déja-Vue, denn mit genau diesen Worten habe ich vor einem Jahr die Delegiertenversammlung in Liestal eröffnet. Doch keine Angst: Ich spiele heute nicht Papagei, sondern ich möchte aufzeigen, was sich seither verändert hat und wo die grossen Herausforderungen für die Grünen liegen.

Ihr wisst es: Der damals prognostizierte Rechtsrutsch ist unterdessen Realität geworden. Es braucht eine robuste Psyche, um sich in den rechtsgedrehten Kantonen und im nationalen Parlament für nachhaltige Politik einzusetzen. Zum Glück werden wir von der Bevölkerung immer wieder unterstützt dabei. Grüne Referenden gegen Sparmassnahmen auf dem Buckel von Jugendlichen, auf dem Buckel von Rentner/innen, auf dem Buckel von Mittelstandsfamilien finden Mehrheiten. Und Luxusstrassenprojekte werden abgelehnt, so wie kürzlich in Baselland – wenn das kein gutes Zeichen gegen die zweite oder besser gesagt: gegen die fünfte Gotthardröhre ist.

Doch blenden wir wieder zurück. Die vor einem Jahr beschlossene Freigabe des Frankenkurses hat in Wirtschaft und Tourismus schmerzhafte Spuren hinterlassen. Mit der sog. Durchsetzungsinitiative der SVP hat auch der Abbau der Grundrechte einen neuen Höhepunkt erreicht. Er treibt die Schweiz immer stärker in die internationale Isolation. Und dort, genau dort, liebe Grüne, wollen wir nicht hin.

Man könnte nun meinen, dass sich die Politik mit Verve daran macht, die anstehenden Probleme zu lösen. Fehlanzeige! Anstatt den Schutz von älteren Arbeitnehmenden zu verbessern, wird eine Erhöhung des Rentenalters angepeilt. Anstatt der Exportindustrie mit der Energiewende neue Geschäftsfelder zu eröffnen, werden umweltpolitische Fortschritte abgeblockt. Anstatt Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit zu verteidigen, investieren die rechten Wirtschaftsverbände ihre Millionen lieber in den Kampf gegen die zwei grünen Volksinitiativen, die in diesem Jahr zur Abstimmung kommen. Mit dieser Prioritätensetzung machen sich Economiesuisse und Co. zum Steigbügelhalter der Rechtspopulisten. Ob bewusst oder unbewusst – die Wirkung ist da.

Die Rechtspopulisten ihrerseits treiben immer wildere Blüten. Sie fördern und instrumentalisieren die Ängste der Menschen, um ihr Programm des Teilens und Herrschens durchzuziehen. Ohne jede Anstrengung gelingt es ihnen immer wieder, die ganz normalen kleinen Leute gegeneinander auszuspielen, die Jungen gegen die Alten, die Deutschschweizerinnen gegen die Romands, die Starken gegen die Schwachen, die Mehrheiten gegen die Minderheiten.

Die Königsdisziplin der Rechtspopulisten aber, wir wissen es, ist die Bewirtschaftung der Fremdenfeindlichkeit. Dazu ist ihnen jedes Mittel und jeder Anlass Recht. Köln zum Beispiel. Die Silvesternacht in Köln hat unterdessen mehr Diskussionen über Sexismus ausgelöst als 50 Jahre Frauenbewegung. Doch das ist kein Grund zur Freude. Seit vielen Jahren wissen wir, dass jede dritte Frau in Europa und in der Schweiz mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von Gewalt und sexueller Belästigung wird. Opfer von Ehemännern, Bekannten, Arbeitskollegen oder betrunkenen Machos im öffentlichen Raum. Ich selber habe in einem Forschungsprojekt zu Gewalt im sozialen Nahraum mitgearbeitet und Dinge gesehen, die ich nie für möglich hielt.

Seit Jahren fordern Frauenverbände und fordern wir Grünen, dass die Gewalt gegen Frauen konsequent verfolgt und sanktioniert wird, unabhängig von der Herkunft der Täter und der Opfer. Wir haben erreicht, dass Vergewaltigung in der Ehe ein Offizialdelikt wird – gegen den Widerstand der SVP. Wir haben erreicht, dass die Gesetze verschärft und die staatlichen Interventionen besser koordiniert werden. Wir fordern heute mehr Ressourcen für Frauenhäusern und Opferhilfestellen – gegen die bürgerlichen Sparapostel. Wir fordern, dass die Schusswaffen endlich aus den Schlafzimmern verschwinden. Wir fordern Lohngleichheit und wirtschaftliche Unabhängigkeit für Frauen. Doch all das interessiert die Rechtspopulisten nicht. Sie interessiert nur, dass die Täter wahrscheinlichen Ausländer waren. Und dass sie damit die Eskalation anheizen können. Anstatt Gewaltflüchtlinge durch gute Betreuung rasch in die Gesellschaft zu integrieren.

Liebe Grüne

Wir wissen, dass sexualisierte Gewalt überall dort zuhause ist, wo patriarchale Ideologien ihr Unwesen treiben – hier in der Schweiz und in anderen Ländern. Frauen und Grüne auf der ganzen Welt setzen sich für rechtliche Gleichstellung, Selbstbestimmung und Gewaltfreiheit ein. Gerade weil dies für viele Frauen unerreichbar ist, fliehen sie aus Eritrea oder aus dem Nahen Osten nach Europa. Und hier stossen sie auf eine Mauer aus Ablehnung. Sexismus und Rassismus sind deshalb zwei Seiten der gleichen Medaille.

All dies zeigt, dass wir mit Sündenblockpolitik und billiger Instrumentalisierung nicht weiterkommen. Es gibt keine simplen Antworten auf die aktuellen Herausforderungen. Aber es gibt Antworten, und die sind grün. Wie keine andere politische Bewegung haben die Grünen immer die globale mit der lokalen Dimension verbunden. Für uns ist klar: Es kann hier in der Schweiz langfristig keine Stabilität und keinen Frieden geben ohne weltweite Gerechtigkeit und den Schutz der Natur. Mit der „Fair-Food“-Initiative, mit dem ökologischen Umbau der Wirtschaft, mit dem Einsatz für die Menschenrechte und gegen verlogene Waffenexporte wollen wir die Voraussetzung für nachhaltige Entwicklung schaffen. Und zwar dies- und jenseits der Grenze.

Liebe Grüne, der Rechtsrutsch bei den nationalen Wahlen ist kein Grund, die Hände in den Schoss zu legen. Im Gegenteil. 2016 wird zu einem Schicksalsjahr für die Umweltpolitik und für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Liebe Grüne, es braucht uns mehr denn je!

Präsidialrede (PDF)