Das Jahr der Bewährung

Willkommen im neuen Jahr, liebe Grüne! Es ist ein Jahr der Bewährung für uns. Einen Wahlsieg nach dem anderen konnten wir in den letzten Monaten in den Kantonen feiern. Wären morgen nationale Wahlen, dann würden wir klar auf der Gewinnerseite stehen. Wir haben den Atomausstieg und die Energiewende mehrheitsfähig gemacht. Wir haben neue Allianzen mit der Cleantech-Wirtschaft geknüpft. Wir haben im Rahmen des Projekts #GrüneDebatte17 die grossen Zukunftsfragen diskutiert: Die Stärkung der Grundrechte im Zeitalter des Rechtspopulismus. Die Folgen der Digitalisierung für Arbeitsplätze und Datenschutz. Der Graben zwischen Wissen und Handeln im Umweltschutz. An der Delegiertenversammlung im Mai präsentieren wir die Resultate des Debattenjahrs und zeigen, wie es weitergeht.

2018 stehen neue Herausforderungen vor der Tür. Die Wahlen in vielen Zürcher Städten und Gemeinden, die Wahlen in den Kantonen Nidwalden, Bern, Glarus, Graubünden, Genf und Zug. Die Abstimmung zu unserer Fair-Food-Initiative, die Weichenstellung im Klimaschutz, der Kampf gegen die No-Billag-Initiative, die den Service Public privatisieren und kommerzialisieren will. Wenn wir unsere Erfolgsbilanz fortführen wollen, dann ist überall grosser Einsatz gefragt. Die Früchte hängen hoch – höher als in der ersten Halbzeit der Legislatur. Umso mehr werden wir uns engagieren. Ich bin bereit und ich zähle auf euch.

Schon nach wenigen Tagen ist klar, dass 2018 ein stürmisches Jahr werden wird. Kaum hat sich die bäumeausreissende Burglind verzogen, ist bereits das nächste Sturmtief in Sicht. Es heisst Trump. Über seinen Besuch in Davos kann sich zumindest die FDP freuen. Sie befasst sich an ihrer Delegiertenversammlung heute mit Energie- und Klimapolitik. Gemessen an Trump sind die Freisinnigen beim Klimaschutz geradezu hyperaktiv. Gemessen an den realen Herausforderungen dagegen kann man ihr Programm nur als Schwachstrom bezeichnen. Rund 15 000 Wissenschaftler/innen aus 185 Ländern haben vor Weihnachten eine «Warnung an die Menschheit» unterzeichnet. Es ist fünf vor zwölf im Umweltschutz. Gemäss neueren Studien werden heute bereits vier von neun planetaren Belastungsgrenzen überschritten: beim Klimawandel, dem Verlust an Biodiversität, den Einträgen von Stickstoff und Phosphor in die Biosphäre und der Landnutzung. Und was macht die FDP? Sie will die ungenügende Strategie des Bundesrates noch weiter verwässern. Die Worte «Markt» und «Marktwirtschaft» nehmen in ihrer Resolution doppelt so viel Platz ein wie die Worte «Klima» und «Umwelt». Das sieht doch sehr viel mehr nach Abwehrkampf aus als nach Pioniergeist und Ärmelhochkrempeln. Offenbar ist die Liebe zur Schweiz doch nicht so gross.

Doch zurück zu Trump. Er steht für eine Politik, die Egoismus und persönliche Profitmaximierung in den Vordergrund stellt. Er steht für eine Politik, die sich den niedersten Instinkten bedient und Sexismus, Rassismus, Lug und Trug salonfähig machen will. Trump steht für eine libertäre Ideologie, die alle gemeinschaftlichen Institutionen zerschlagen und das Recht des Stärkeren durchsetzen will. Wer eine solche Politik macht, steht im Widerspruch zu den traditionellen Werten der Schweiz. Und zu den Werten der Grünen sowieso.

Allerdings bringt es null und nichts, wenn es rund um den Trump-Besuch wüste Strassenschlachten geben sollte. Nicht Trump als Person ist das Problem. Das Problem ist, dass solche destruktive Egomanen in einem demokratischen Land überhaupt gewählt werden. Unsere Botschaften müssen sich deshalb nicht nur an Trump selber richten, sondern an die US-Bürger/innen, die es in der Hand haben, ihn wieder abzusetzen. Climate First, Mister Trump! World First, Mister Trump! Human Rights First, Mister Trump! Not welcome, Mister Trump!

2018 ist nicht nur das Jahr der Sturmtiefs, sondern auch der historischen Paukenschläge. 100 Jahre Kriegsende, 100 Jahre Novemberrevolution, 100 Jahre Landesstreik. Alle diese Ereignisse haben etwas miteinander zu tun. Sie sind Etappen der globalen Auseinandersetzung zwischen nationalistisch getarnten Machtinteressen und dem Wunsch der Menschen nach Frieden, existenzsichernden Lebensgrundlagen und Demokratie. Für mich ist auch Europa ein Friedensprojekt. Wenn ich über die Europäische Union rede, dann habe ich nicht in erster Linie die Brüsseler Bürokratie vor Augen, nicht die Schuldenkrise, die Griechenland ins Verderben reissen wird, und auch nicht die Immobilienkrise, die den spanischen Jugendlichen die Lebenschancen raubt. Nein, wenn ich an die EU denke, dann denke ich zuallererst an einen Zusammenschluss von Ländern, die in Frieden und respektvoller Nachbarschaft miteinander leben wollen. Dazu muss auch die Schweiz ihren Beitrag leisten.

Leider ist die Europapolitik des Bunderates chaotisch. Nicht nur die des Bundesrates, sondern auch die der Bundesratsparteien. Selbst die SP ist für einmal Teil des Problems und nicht Teil der Lösung. Ich kann mich noch gut an die Drohung von Christian Levrat erinnern, damals vor der Abstimmung über die SVP-Zuwanderungsinitiative. Er wollte das Kroatienabkommen scheitern lassen, wenn die flankierenden Massnahmen zum Schutz der Löhne in der Schweiz nicht ausgebaut würden. Ein richtiges Ziel, aber die falsche Strategie. Denn ein Scheitern hätte das Ende der Bilateralen Verträge bedeutet.

Nach der Abstimmung vom Februar 2014 nahm auch der Bundesrat die Aufkündigung des Bilateralen Weges in Kauf. Die Grünen waren damals die einzige Partei, die sich unbeirrt für eine offene und solidarische Schweiz einsetzte und den Bilateralen Weg erhalten wollte. Dieses Ziel haben wir unterdessen auch erreicht. Doch es ist nur ein Etappensieg. Das europapolitische Verwirrspiel geht in die nächste Runde. Wir Grüne fordern den Bundesrat deshalb auf, sofort alle Karten auf den Tisch zu legen. Die Geheimniskrämerei zur sogenannten Kohäsionsmilliarde und zum Rahmenabkommen muss ein Ende finden. Nur wenn wir die Fakten kennen, können wir sie auch beurteilen. Das bundesrätliche Stochern im Nebel spielt der SVP in die Hände.

Und nun zu unserem heutigen Schwerpunkt: Der Finanz- und Steuerpolitik. Es war der grosse Sieg gegen die bürgerliche Politik der tiefen Steuern und der leeren Kassen im letzten Jahr. Das überaus klare Nein verdanken wir auch unserem Zürcher Finanzvorstand Daniel Leupi, der den Widerstand der überparteilichen Städteallianz anführte so wie einst Eveline Widmer-Schlumpf das Kantonsreferendum gegen das Steuerpaket von Hans-Rudolf Merz.

Die stärkste Ablehnung der USR III kam nicht von der SP, sondern von den Grünen. 95 Prozent unserer WählerInnen sprach sich gegen neue Steuerschlupflöcher und generelle Gewinnsteuersenkungen aus – und damit auch gegen weitere Sparprogramme in Kantonen und Gemeinden. Warum? Aus zwei Gründen: Erstens weil wir die Partei der Gerechtigkeit sind. Und weil wir zweitens in vielen Kantonen und Gemeinden Verantwortung für die Anliegen der Bevölkerung übernehmen. Deshalb wissen wir: Nur ein guter Service Public kann für alle Menschen in der Schweiz Lebensqualität, Grundrechte und faire Chancen sichern. Die Tiefsteuerpolitik zugunsten von globalen Konzernen und ihren Aktionären stellt ihm die Luft ab und fördert die Ungleichheit.

Die neuste Studie von Thomas Piketty zeigt, dass die Vermögens­konzentration in den westlichen Ländern so gross ist wie vor 100 Jahren. Die bürgerlichen Versprechungen von sozialer Marktwirtschaft und Gemeinsinn lösen sich zunehmend in Luft auf. Kein Wunder, steigen Unsicherheit und Zukunftsängste. Sie sind ein wesentlicher Motor für rechtspopulistische Wahlerfolge von Trump und Co. Auch in der Schweiz lässt sich mit dem Buckeln gegen oben und dem Treten gegen unten so manches Sääli füllen. Das müssen wir stoppen. Ein erster Hebel dazu ist die Eindämmung des immer unfaireren Steuerwettbewerbs.

Leider geht die Neuauflage der Steuerreform in die falsche Richtung. Sie heizt den nationalen und globalen Steuerwettbewerb weiter an und führt zu Einnahmeausfällen auf allen Ebenen des Gemeinwesens. Eine soziale und verursachergerechte Gegenfinanzierung fehlt nach wie vor. Der Bundesrat nimmt also den Willen der Bevölkerung nicht ernst. Im Gegenteil: Er packt noch einen drauf. Als Vergeltungsmassnahme für die «böse EU-Politik» will er jetzt auch noch die Stempelsteuer abschaffen und ein weiteres Loch von zwei Milliarden Franken in den Bundeshaushalt reissen. Das müssen wir verhindern.

Die Finanzpolitik steht deshalb nicht nur an unserer Delegiertenversammlung heute, sondern auch in den nächsten Monaten ganz oben auf unserer Traktandenliste. Ohne soziale Gerechtigkeit ist ökologischer Wandel nicht zu haben.

Liebe Grüne: Wir werden bis zu den nationalen Wahlen im Oktober 2019 immer wieder Haltung zeigen müssen. Haltung zeigen – das ist der treffende Wahlslogan der Stadtzürcher Grünen für die Wahlen vom 4. März. Mal arbeiten wir in grossen Allianzen mit, so wie in der Kampagne gegen den medienpolitischen Kahlschlag der No-Billag-Initiative. Mal gehen wir mit unseren Vorschlägen voran, so wie mit der Fair-Food-Initiative, die im Herbst zur Abstimmung kommt. Bei beiden ist der Ausgang ungewiss. Das einzige, was heute sicher ist: Ich bin bereit, mich noch einmal für zwei Jahre als Präsidentin der Grünen zur Verfügung zu stellen. Die Zusammenarbeit mit euch macht mir grosse Freude – und ich bin sicher: Wir können gemeinsam noch den einen oder anderen Berg versetzen. Packen wir‘s an!

Präsidialrede (PDF)