Porträt von Lynn Bertholet

Meine Mutter zog 1963 nach der Trennung von meinem Vater nach Lausanne. Zu dieser Zeit benötigte eine Frau noch die Erlaubnis des Mannes, um einen Mietvertrag zu unterschreiben oder ein Bankkonto zu eröffnen. Abstimmen durfte sie auch nicht. Frauenrechte, die Schwarzenbach-Initiative und der Atomunfall in Lucens – diese Themen bewegten meine Mutter. Wir diskutierten viel und auch heute noch bilden diese Themen den Kompass meines politischen Engagements.

In Verbier, bei meinem Vater, sah alles etwas anders aus. Er war Bergführer und Skilehrer. Er sprach viel von Nepal. Die Liebe zur Natur verband uns. Zusammen unternahmen wir viel: Skifahren, Trekking und Ferien in der Berghütte.

1983 schliesse ich meinen Master in politischer Ökonomie an der HEC in Lausanne ab. Später kommen Diplome vom Institute for Management Development (1994) und von der Stanford Business School (2019) hinzu.

Ich mache Karriere im Banken- und Finanzsektor. Den Sinn im Leben finde ich anderswo: Ich organisiere Skiausflüge für blinde Menschen und gründe zusammen mit meinem Vater einen Verein für Kinder in Nepal. Mit diesem statten wir 2008 die Schule von Chaurikharka (Nepal) mit Solarzellen aus. An der Universität Genf rufe ich 2002 den CAS in «Compliance in Financial Services» ins Leben – und lehre dort seit 18 Jahren.

Mein Leidensdruck wächst trotzdem. 2014 habe ich Suizidgedanken. Dieses Mal jedoch werde ich von einer kompetenten Psychologin begleitet. Am 15. Oktober 2015 werde ich zur ersten Frau in Genf, die ohne geschlechtsangleichende Operation ihr Geschlecht und den Namen ändern darf. Für mich ist es wie eine zweite Geburt. Eine lange und, entgegen meinem eigenen Willen, fast allein erkämpfte. 2018 gründe ich daher den Verein ÉPICÈNE, zusammen mit drei weiteren trans Menschen und einer Anwältin.

Heute zählt ÉPICÈNE 178 Mitglieder aus der ganzen Schweiz. Neben den üblichen Tätigkeiten eines Vereins für Direktbetroffene führt ÉPICÈNE auch Schulungen für Unternehmen und Verwaltungen durch. Diese finanzieren den Verein und seine mittlerweile zwei Mitarbeitenden. 2020 bringt ÉPICÈNE das Buch TRANS* heraus, 2022 organisiert ÉPICÈNE das erste Symposium zur Gesundheit von trans Personen in der Schweiz und am 2. und 3. Juni 2023 führt ÉPICÈNE eine zweitägige Weiterbildung für Psychoterapeut*innen aus der Romandie durch.

2022 wählen mich die Genfer GRÜNEN in ihren Vorstand. Als Tochter eines Bergführers kann ich den Gedanken nicht ertragen, dass die Schweiz bis 2070, oder sogar noch früher, all ihre Gletscher verlieren könnte. Ich will meinen Beitrag leisten und mich für eine nachhaltige Wirtschaft im Dienst der Menschen einsetzen, für Inklusion und die Rechte von Minderheiten. Und natürlich für die tatsächliche Gleichstellung von uns Frauen. Ich kann ihren Kampf nur zu gut verstehen, schliesslich habe ich bereits als Mann und als Frau gelebt.

Lynn Bertholet
Nationalratskandidatin (GE)