Den Kurswechsel jetzt umsetzen!

Liebe GRÜNE

Wir haben Geschichte geschrieben. Noch nie hat in der Schweiz eine Partei so deutlich zugelegt wie wir GRÜNE am 20. Oktober.

Es ist die grösste Verschiebung seit der Einführung des Proporzwahlrechts 1919. Der tiefgreifende Wandel in der Gesellschaft ist in der Bundespolitik angekommen. Wir sind so viele Frauen wie noch nie. Wir sind so viele Umweltbewegte wie noch nie. Wir sind so viele Junge wie noch nie. Und wir haben einen glasklaren Auftrag: Wir wurden gewählt, um wirtschaftlichen Wohlstand von Naturzerstörung zu entkoppeln. Wir wurden gewählt, um den sozialen Ausgleich und die gesellschaftliche Öffnung zu stärken. Wir wurden gewählt als Anwält*innen von Demokratie und Menschenrechten. Und wir werden alles tun, um den hohen Erwartungen gerecht zu werden!

Anfang Dezember zieht die grösste Grüne Fraktion aller Zeiten im Bundeshaus ein. 30 National- und Ständerät*innen werden es sein. Mindestens – denn die Ständeratswahlen sind noch nicht abgeschlossen. Doch schon heute ist klar: Wir spielen seit dem 20. Oktober in der gleichen Liga wie die Bundesratsparteien CVP und FDP. Das ist eine riesige Chance für uns. Je mehr GRÜNE im Parlament sind, desto grüner werden und bleiben die anderen Parteien.

Die Stärkung der GRÜNEN ist eine riesige Anerkennung für unsere beharrliche, kompetente Arbeit auf allen Ebenen der Politik. Ich danke euch von Herzen für euer Engagement. Allen voran der Wahlkampagnenleitung mit Regula Tschanz, Lisa Mazzone und Balthasar Glättli. Sie haben aus dem kleinsten Budget aller Parteien das Maximum an Wirkung herausgeholt. Mit eisernen Nerven und viel Leidenschaft!

Auch den Mitarbeitenden der GRÜNEN Schweiz und der Sektionen möchte ich für ihren Einsatz herzlich danken. Und natürlich den Jungen Grünen, der stärksten und innovativsten Jungpartei der Schweiz. Ich danke auch den 295 Kandidat*innen, den unzähligen Unterstützer*innen, den treuen langjährigen Mitgliedern und den Tausenden Neumitgliedern, die mit uns die Zukunft gestalten. Ökologisch, sozial und weltoffen. Weitsichtig, integer und transparent.

Liebe GRÜNE

Die Wahlen im Oktober waren eine Richtungswahl, eine Zukunftswahl. Der Druck der Klimajugend und die neue Frauenbewegung haben den Schutz unserer Lebensgrundlagen und die Gleichstellung ins Zentrum der Politik gerückt. Die traditionellen Kernthemen der GRÜNEN. Die Medien­schaffenden fragen mich deshalb immer wieder, ob wir Greta Thunberg eigentlich schon gedankt haben für ihre Wahlhilfe. Und ich gebe immer die gleiche Antwort: Sie ist grossartig.

Aber wir GRÜNE waren erfolgreich unterwegs, bevor die Jugendlichen ihre Sorge um die Zukunft auf die Strasse trugen. Vor dreissig Jahren haben wir im Parlament unseren ersten Vorstoss für den Klimaschutz eingereicht. Vor einem Jahr habe ich beim Namen Greta nur an Greta Gysin gedacht, unsere neue Nationalrätin aus dem Kanton Tessin. Vor einem Jahr haben wir mit Andrea de Meuron in Thun unseren ersten Gemeinderatssitz gewonnen – einen Exekutivsitz mehr in einer langen Serie von Erfolgen. Vor einem Jahr haben wir die Kampagne zur Zersiedelungsinitiative der Jungen Grünen vorbereitet. Wir haben die letzten vier Jahre genau das getan, was wir uns nach der Wahlniederlage 2015 vorgenommen hatten: Die Ärmel hochkrempeln und in Bewegung bleiben.

Wir sind nicht wie die Maus vor dem Rechtsrutsch-Parlament erstarrt, sondern wir haben die Umweltpolitik immer und immer wieder auf die Traktandenliste gesetzt. 2016 kamen die Volksinitiative für eine Grüne Wirtschaft und die Initiative für einen geordneten und raschen Ausstieg aus der Atomenergie an die Urne. 2018 die Fair-Food-Initiative. All das waren Lösungen für einen verantwortungsvollen und sozialen Umgang mit den Grenzen der Natur.

Jede unserer Initiativen ist in mindestens einem Kanton der Romandie angenommen worden. Für ein nationales Ja hat es nicht gereicht. Doch wir konnten die Initiativen nutzen, um Druck für parlamen­tarische Reformen zu machen. Das ist Politik-Handwerk. Wir haben die Energiestrategie über die Ziellinie gebracht, einen Gegenvorschlag zur bäuerlichen Ernährungsinitiative durchgeboxt, die grüne Wirtschaft im Beschaffungsrecht und im Umweltgesetz gestärkt und den fairen Handel auf die Traktandenliste gesetzt. Und all das mit neuen, auch überraschenden Allianzen. Aber immer gegen den Spott, den Hohn und die Millionen­kampagnen der etablierten Politik und der traditionellen Wirtschaftsverbände. Man hat uns damals sogar als «grünen Schleim» bezeichnet.

Doch dann kamen die Klimabewegung und die Frauenbewegung in Fahrt. Und aus Gegenwind wurde plötzlich Rückenwind. Das änderte alles. Das vielleicht deutlichste Zeichen des neuen Zeitalters ist der klimapolitische Kurswechsel der FDP. Mitten in der Wahlkampagne. Das wäre ohne die Jugendlichen auf der Strasse nie möglich gewesen. Sie haben ihren Eltern und Grosseltern die Augen geöffnet für die Herkulesaufgabe, die mit der Dekarbonisierung vor uns liegt. Und sie haben ihnen klar gemacht, dass es dabei um nichts Geringeres als um ihre Zukunft geht und dass diese Zukunft JETZT beginnt. Die Kompetenz, die Vehemenz, die Unabhängigkeit der Jugendlichen verdient unseren allergrössten Respekt.

Liebe GRÜNE, jetzt sind wir gefragt. Mit dem grossartigen Wahlresultat vom 20. Oktober haben wir den Auftrag erhalten, die Klimapolitik auf den Netto-Null-Kurs zu bringen. Wir haben den Auftrag erhalten, die Gleichstellung endlich voranzubringen. Wir haben den Auftrag erhalten, die Land­wirtschaft von giftigen Pestiziden zu befreien – ohne die Bäuerinnen und Bauern zu bestrafen. Wir haben den Auftrag erhalten, die Menschenrechte und die Konzernverantwortung zur Leitschnur der schweizerischen Aussenpolitik zu machen. Und all das, liebe Freunde, werden wir auch tun. Unser erster Vorschlag ist ein Klimagipfel zwischen Parteispitzen und der Klimaforschung. Es ist der Anfang einer neuen Politik in einer Zeit des Wandels. Das ist GRÜN!

Liebe GRÜNE

Die Wahlen vom 20. Oktober geben uns einen enormen Gestaltungsspielraum – und viel Verantwortung. Wir GRÜNE nehmen sie nicht auf die leichte Schulter. Und können die grosse Aufgabe erfüllen, wenn wir zum Start der neuen Legislatur drei Grundsätze beachten.

Erstens: Wir leben die Vielfalt.

«Politik handelt vom Zusammensein von Verschiedenen», hat meine Lieblingsphilosophin Hannah Arendt einmal gesagt. Das ist ein zentraler Leitsatz für uns GRÜNE. Wir leben die Vielfalt. Wer wie unser frisch gebackener Glarner Ständerat Mathias Zopfi aus Engi unter dem Tödi kommt, bringt andere Erfahrungen mit als die neu gewählte Zürcher Nationalrätin Meret Schneider. Das ist eine Riesenchance für unsere Partei. Wir sind in Stadt und Land gleichermassen verwurzelt. Wir bauen Brücken zwischen Tradition und Erneuerung. Wir entwickeln differenzierte Lösungen für unterschiedliche Lebensrealitäten. Und wir wollen gesellschaftliche Spaltungen überwinden. Denn diese sind der Motor der Rechtspopulisten, die in ganz Europa einen neuen Kulturkampf entzündet haben und Hass und rassistische Abgrenzung predigen. Wir GRÜNE sind das Gegenteil davon.

Der zweite Leitsatz: Wir bleiben in Bewegung.

Die Politik, gerade im Bundeshaus, ist heute oftmals mit persönlichem Nutzen und ökonomischen Interessen verbunden. Bei uns ist das anders. Wir sind nicht den Etablierten und den Mächtigen verpflichtet, sondern Menschen wie Carmen, einer der Organisatorinnen des Klimastreiks. Vor ihren Augen muss unsere Arbeit bestehen. Und das schaffen wir nur, wenn wir den Teamgeist leben und mithelfen, die GRÜNEN in der Breite zu stärken. Tausende von Neumitgliedern wollen sich bei uns GRÜNEN engagieren. Legen wir ihnen den roten Teppich aus und holen wir ihre Kompetenzen aktiv ab. Dann bringen wir den Kurswechsel richtig vorwärts. Die Zeit drängt.

Der dritte Leitsatz ist: Wir arbeiten über den Gartenzaun hinaus.

Zu den eindrücklichsten Begegnungen in der Wahlkampagne zählten für mich die Begegnungen mit europäischen GRÜNEN. Reinhard Bütikofer, Katharina Schulze und jüngst Robert Habeck, dem Co-Vorsitzenden der deutschen GRÜNEN. Wir teilen mit ihnen unsere Werte und wir arbeiten an den gleichen Themen. Das internationale Netzwerk der GRÜNEN ist ein grosses Plus für die inhaltliche Arbeit. Viele Zukunftsfragen lassen sich nicht mehr im Rahmen der klassischen Nationalstaaten regeln. Wir wollen deshalb in den nächsten Jahren die internationale Zusammenarbeit stärken, im Bereich des Klimaschutzes, der internationalen Steuergerechtigkeit, einer fairen Handelspolitik und der Friedensarbeit. Global denken und lokal handeln – das ist unsere DNA.

Liebe GRÜNE

Nach den Wahlen vom 20. Oktober haben wir es in der Hand, die ökologische, die soziale, die offene Schweiz zu gestalten. Wir spielen neu in der gleichen Liga mit wie die Bundesratsparteien. Doch offenbar haben die Wählerinnen und Wähler in diesem Land keinen Einfluss auf die Zusammensetzung des Bundesrates. Das ist ein demokratiepolitischer Affront. Wir fordern deshalb eine neue «Zauberformel», eine Regierungsformel, welche den Verschiebungen in der Parteienlandschaft besser Rechnung trägt. Jedes System braucht einmal eine Generalüberholung. Wir fordern auch den Verzicht auf taktische Bundesratsrücktritte während der Legislatur. Wenn Johann Schneider-Ammann und Doris Leuthard ordnungsgemäss auf Ende Legislatur zurückgetreten wären, dann könnten wir am 11. Dezember die erste grüne Bundesrätin oder den ersten grünen Bundesrat feiern. Noch ist offen, was jetzt möglich ist. Aber liebe GRÜNE: Grund zum Feiern haben wir trotzdem schon heute. Heben wir also unsere Gläser!

Ich danke allen, die diesen Aufbruch in eine neue Politik möglich gemacht haben. Noch nie war unser Engagement so sinnvoll und nötig. Packen wir es an!

Präsidialrede (PDF)